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Dok. 11993
7. August 2009

Behaupteter politisch motivierter Missbrauch
des Strafrechtssystems in Mitgliedstaaten des Europarats

Bericht

Ausschuss für Recht und Menschenrechte

Berichterstatterin: Frau Sabine LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER, Deutschland, Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa

Zusammenfassung

Der Ausschuss für Recht und Menschenrechte empfiehlt eine Reihe von Maßnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten in ganz Europa, um politisch motivierter Einmischung in einzelnen Fällen ein Ende zu setzen.

Der Entschließungsentwurf legt dar, wie Politiker in vier Staaten, die die Hauptformen des Strafrechtssystems in Europa verkörpern, in Strafverfahren eingreifen können, wobei bedeutende Rechtssachen wie die Niederschlagung der Betrugsermittlungen bei British Aerospace und der „Cash for honours“-Skandal im Vereinigten Königreich oder der zweite Chodorkowski-Prozess und die Mordfälle HSBC/Hermitage Capital und Politkowskaja in der Russischen Föderation analysiert werden.

Außerdem verlangt der Ausschuss

     im Vereinigten Königreich eine Reform der Rolle des Attorney General, um seine Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament zu erweitern und eine Umkehr bei der Finanzierung der Gerichtskostenhilfe (Legal Aid), damit eine „Zwei-Klassen-Justiz“ vermieden werden kann;

    in Frankreich die Überprüfung der vorgeschlagenen Abschaffung des juge d’instruction (Untersuchungsrichter) oder – sollte die Abschaffung ihren Gang gehen – zumindest eine Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwälte, die diese Aufgabe übernehmen sollen sowie eine Erhöhung der dem gesamten Justizwesen und gerade auch den Verteidigern zur Verfügung stehenden Mittel;

    in Deutschland die Einrichtung von „Justizräten“, wie es sie in den meisten anderen europäischen Staaten gibt, damit Richter und Staatsanwälte bei der Anwendung des Justizwesens mehr Mitsprache haben und den Ausschluss der Möglichkeit, dass Justizminister in Einzelfällen der Anklagebörde Weisungen erteilen können;

    in der Russischen Föderation eine Reihe von Reformen zur Verminderung des politischen und hierarchischen Drucks auf Richter und zur Beendigung der Bedrängung von Verteidigern, um auf diese Weise dem „Rechtsnihilismus“ in der Russischen Föderation auch als Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen russischen und anderen europäischen Strafverfolgungsbehörden ein Ende zu setzen.


A.      Entwurf einer Entschließung

1.       Die Parlamentarische Versammlung unterstreicht die grundlegende Bedeutung des Schutzes von Strafrechtssystemen in ganz Europa vor politisch motivierten Eingriffen, was die Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Freiheit des Einzelnen angeht.

2.       Die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten des Europarats auf dem Gebiet der Strafjustiz (bei Fragen wie Auslieferung und Beweiserhebung, wie dies aus den einschlägigen Konventionen des Europarats hervorgeht) hängt ab von dem gegenseitigen Vertrauen in die grundlegende Fairness der Strafjustizsysteme aller Mitgliedstaaten und das Ausbleiben politisch motivierter Missbrauchshandlungen.

3.       Die Unabhängigkeit der Gerichte, rechtlich wie praktisch, ist die Hauptverteidigungslinie gegen solche Missbrauchsfälle.

3.1.     Die Unabhängigkeit der Gerichte und jedes einzelnen Richters wird in allen Mitgliedstaaten des Europarats grundsätzlich anerkannt. Das sollte sich auch in den Verfassungen der Staaten niederschlagen. Wirkliche richterliche Unabhängigkeit setzt außerdem eine Reihe rechtlicher und praktischer Sicherungen voraus, darunter

3.1.1.    die Einstellung und Beförderung von Richtern allein nach ihrem Verdienst (Qualifikation, Integrität, Fähigkeiten und Effizienz);

3.1.2.    den effektiven Schutz vor unfairen Disziplinarmaßnahmen (vor allem einer Entlassung);

3.1.3.    Gehälter und Leistungen, die es den Richtern und ihren Angehörigen ermöglichen, nicht auf die Bereitstellung von Wohnraum oder anderen Vergünstigungen durch die vollziehende Gewalt angewiesen zu sein;

3.1.4.    den Schutz der Unabhängigkeit der Richter gegenüber Gerichtspräsidenten und Richtern von Obergerichten, unter anderem durch die Zuweisung von Fällen nach strengen Regeln auf der Grundlage zuvor festgelegter objektiver Systeme, damit den Richtern einzelne Fälle nicht ohne gesetzlich genau umrissene Begründung entzogen werden können und indem sichergestellt wird, dass die Beurteilung der Leistung eines Richters nicht an dem Verhältnis der von Obergerichten bestätigten oder kassierten Urteile gemessen wird.

3.2.    Staatsanwälte müssen ihre Aufgaben ohne Einmischung aus dem Bereich der Politik erfüllen können. Sie müssen gegen Weisungen zu einzelnen Fällen abgeschirmt werden, zumindest dann, wenn solche Weisungen die gerichtliche Verwertung von Ermittlungen verhindern würden.

3.3.    Damit die praktischen Maßnahmen zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit effektiv sind, könnte ein starker Justizrat bei der Überwachung der Umsetzung der richterlichen Unabhängigkeit eine bedeutsame Rolle spielen.

3.3.1.    Justizräte müssen entscheidenden Einfluss auf die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten sowie auf gegen diese gerichtete Disziplinarmaßnahmen nehmen, und zwar unbeschadet der in manchen Verfassungen vorgesehenen richterlichen Über­prüfungs­mechanismen.

3.3.2.    Gewählte Vertreter von Richtern und Staatsanwälten sollten mindestens genauso zahlreich wie von politischen Gremien benannte Mitglieder anderer gesellschaftlicher Gruppierungen sein. Die zuletzt erwähnten Mitglieder sollten für alle politischen Hauptströmungen des Landes reprräsentativ sein. Die in vielen Staaten geltende Praxis, Parlamentsausschüsse in die Benennung bestimmter hoher Richter einzubeziehen was auch für die Wahl der Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gilt ist ebenfalls annehmbar.

 
3.4.    Die Arbeitsteilung zwischen Richtern und Staatsanwälten ist eine Frage der jeweiligen nationalen Rechtstradition. Das richtige Gleichgewicht, das den bestmöglichen Schutz vor politsch motivierten Eingriffen sicherstellt, hängt auch von dem Grad der den Staatsanwälten gewährten Unabhängigkeit sowie den der Verteidigung zu Gebote stehenden Verfahrensrechten und materiellen Mitteln ab.

3.4.1.    In Staaten wie dem Vereinigten Königreich und Italien, in denen Staatsanwälte über ein hohes Maß an Unabhängigkeit verfügen und die Verteidigung schon frühzeitig die Unterlagen einsehen und Kontakt mit dem Beschuldigten aufnehmen kann, lässt sich die Rolle der Richter problemlos auf die gesetzliche Überprüfung und die abschließende Urteilsfindung beschränken.

3.4.2.    In Staaten wie Frankreich und Deutschland, in denen Staatsanwälte enger in Hierarchien eingebunden sind, müssen Richter und Verteidiger auch in der Ermittlungsphase eine aktivere Rolle spielen können.

 
3.5.    Der Erfolg von Veränderungen des Systems, wie die geplante Abschaffung des juge d’instruction in Frankreich oder in Deutschland die Stärkung der Rolle der Bundesanwaltschaft nach den jüngsten Antiterrorismusgesetzen, setzt voraus, das richtige Gleichgewicht zwischen uneingeschränkt unabhängigen Akteuren (Richter, Verteidiger) und der Staatsanwaltschaft sowie der Polizei zu finden. Im Zuge solcher Reformen könnte es nötig werden, die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft zu stärken, um die generelle Unabhängigkeit des Strafjustizsystems zu sichern und es vor politisch motivierten Einmischungen zu bewahren.

 
4.       Die Lage in den vier Staaten, die hier als Beispiele der Hauptformen des Strafjustizsystems in Europa untersucht werden sollen
 Vereinigtes Königreich (England und Wales), Frankreich, Deutschland und die Russische Föderation – lässt sich anhand folgender Faktoren kennzeichnen:

4.1.       Vereinigtes Königreich:

4.1.1.    Der kontradiktorische Charakter des Strafrechtssystems wird durch beträchtliche, wenn auch in letzter Zeit zurückgehende Mittel untermauert, die für Prozesskostenhilfe zur Verfügung stehen, um auf diese Weise für Waffengleichheit zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung zu sorgen;

4.1.2.    die althergebrachte Kultur der Unabhängigkeit und Professionalität der Richter und Staatsanwälte wird durch ihren hohen Sozialstatus gestützt und durch die vor kurzem erfolgte Einsetzung der Judicial Appointments Commission zusätzlich unterstrichen;

4.1.3.    die traditionell aktive Überwachung der Regierung durch das Parlament sowie die lebendige, pluralistische und freie Medienlandschaft sind ebenfalls zu erwähnen;

4.1.4.    Fälle aus jüngerer Zeit (darunter British Aerospace und „Cash for Honours“) haben deutlich gemacht, dass die Rolle des Attorney General geändert und geklärt werden muss; ein entsprechender Reformvorschlag wird zurzeit diskutiert.

 
4.2.    Frankreich und Deutschland:

4.2.1.    Die überkommenen inquisitorischen Strafjustizsysteme sind mittlerweile stärker kontradiktorisch geprägt, doch sind die Mittel für Prozesskostenhilfe in beiden Ländern nicht entsprechend erhöht worden; außerdem haben Verteidiger in Frankreich immer noch nicht den gleichen Zugang zu dem Beschuldigten und den Vorermittlungen vor dem Prozess wie ihre Berufskollegen in dem Vereinigten Königreich und in Deutschland;

4.2.2.    die Unabhängigkeit der Richter wird nach dem Gesetz wie in der Praxis geachtet, doch ist es zu einer beträchtlichen Erosion ihres Sozialstatus gekommen;

4.2.3.    in beiden Staaten ist die Unabhängigkeit der Staatsanwälte weitaus weniger entwickelt als im Vereinigten Königreich; vor kurzem beklagten leitende Staatsanwälte und gewählte Vertreter von Richtern und Staatsanwälten in Frankreich eine deutliche Verschlechterung in der Praxis;

4.2.4.    der französische Conseil Supérieur de la Magistrature, welcher für Richter und in geringerem Maße auch für Staatsanwälte eine wichtige Rolle in Laufbahn- und Disziplinar­angelegenheiten spielt, kennt in Deutschland immer noch keine Entsprechung; in Frankreich wurde kürzlich beschlossen, die Zahl der von dem Präsidenten der Republik und den Präsidenten der beiden Häuser des Parlaments ernannten Mitglieder zu verdoppeln, womit  die gewählten Vertreter der Richterschaft und der Anwaltschaft in die Minderheit geraten sind;

4.2.5.    die vorgeschlagene Abschaffung des juge d’instruction in Frankreich und die Übertragung des Großteils seiner Zuständigkeiten auf die Staatsanwaltschaft werden weithin als Versuch der politischen Instanzen betrachtet, ihren Einfluss auf den Umgang mit sensiblen Rechtssachen zu erweitern;

4.2.6.    in beiden Ländern bilden die Parlamente und unabhängige Medien ein recht festgefügtes Bollwerk gegen einen Missbrauch des Strafrechtssystems durch die Exekutive.

 
4.3.    Russische Föderation:

4.3.1.    Deutliche Verbesserungen des Sozialstatus von Richtern und Staatsanwälten haben in den letzten Jahren ihre Abhängigkeit von Exekutivorganen im Hinblick auf Wohnraum und andere Grundbedürfnisse fast völlig beseitigt und dürften zu einem Rückgang der Korruption in der Richterschaft beitragen;

4.3.2.    Gesetzgebungsreformen unter Berücksichtigung europäischer Standards einschließlich der Schaffung eines föderalen Richterrates für Laufbahn- und Disziplinarfragen haben die rechtliche Stellung der Richterschaft gestärkt;

4.3.3.    die Einsetzung des gesonderten Ermittlungsausschusses bei der Generalstaats­anwaltschaft könnte deren Übergewicht im strafrechtlichen Prozess mit der Zeit etwas abschwächen;

4.3.4.    die althergebrachte Unterwürfigkkeit vieler Richter und Staatsanwälte ist noch nicht ganz überwunden; vielmehr unterliegen Richter nach einem ermutigenden Neuanfang Anfang der 1990er Jahre einem zunehmenden Druck, in fast allen von der Staatsanwaltschaft vor Gericht gebrachten Fällen eine Verurteilung auszusprechen;

4.3.5.    zu den Druckmitteln gehören immer noch inoffizielle Methoden der alten Zeit wie „Telefonjustiz“, aber auch amtliche Mechanismen der Leistungsbewertung und Disziplinierung.  Die Zahl der aus verschiedenen Gründen ihres Amtes enthobenen Richter ist vergleichsweise hoch. Gerichtsvorsitzende haben unverhältnismäßig viel Macht über Einzelrichter, vor allem wegen ihrer Befugnis, über die Zuweisung von Fällen zu entscheiden. Der gesetzliche Schutz für Richter, die sich solchem Druck widersetzen, ist sehr begrenzt, da die Richterräte ihre Unabhängigkeit und ihre Stellung noch nicht ausreichend gesichert haben;

4.3.6.    unabhängige Juristen werden unter Verletzung russischer wie europäischer Rechts­vorschriften häufig Gegenstand von Untersuchungen und Beschlagnahmen sowie anderer Formen des Drucks;

4.3.7.    eine Reihe hervorstechender Fälle, wie der zweite Prozess gegen M. Chodorkowski und P. Lebedew, die Verfahren gegen die Manager und Juristen von HSBC/Hermitage, die Ermittlungen über den Mord an A. Politkowskaja, die Strafverfolgung von J. Samodurow und die Entlassung der Richterin Kudeschkina und mehrerer anderer Richter, geben zu der Besorgnis Anlass, dass der von Präsident Medwedjew ausgerufene Kampf gegen den „Rechtsnihilismus“ noch keineswegs gewonnen ist;

4.3.8.    das Parlament und die Medien bieten immer noch keine ausreichenden Sicherungen gegen Missbrauch, auch wenn in jüngster Zeit offene Diskussionen in bestimmten Medien auif die Zukunft hoffen lassen.

 
5.       Mit der Feststellung, dass die Strafrechtssysteme aller Mitgliedstaaten
wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße Gegenstand politisch motivierter Einmischungen sind,

5.1.    ruft die Versammlung alle Mitgliedstaaten zu folgenden Maßnahmen auf:

5.1.1.    weitere Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit und der Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung, insbesondere durch Bereitstellung ausreichender Mittel für das Gerichtswesen unter Einschluss der Prozesskostenhilfe, indem Verteidigern auch bei den Ermittlungen vor dem Gerichtsverfahren starke Verfahrensrechte eingeräumt werden und die gerichtliche Selbstverwaltung gestärkt wird;

5.1.2.    Sicherstellung, dass die für Beschlüsse über Auslieferungen und andere Formen der justiziellen Zusammenarbeit zuständigen Stellen dem Grad der Unabhängigkeit der Richterschaft in dem entsprechenden Staat in der Praxis wie nach dem Gesetz Rechnung tragen und eine Auslieferung immer dann verweigern, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die betreffende Person in dem ersuchenden Staat aller Wahrscheinlichkeit nach aus politischen Gründen kein faires Verfahren erwarten kann.

 
5.2.    Die Versammlung ruft das
Vereinigte Königreich zu folgenden Maßnahmen auf:

5.2.1.    Unverzügliche Durchführung der Reform der Rolle des Attorney General bei gleichzeitiger Erweiterung seiner Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament;

5.2.2.    volle Umsetzung der Konvention der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über die  Bestechung ausländischer Amtsträger einschließlich ihres Artikels 5;

5.2.3.    Rückgängigmachung der vor kurzem erfolgten Kürzung der für Prozesskostenhilfe verfügbaren Mittel, um das Entstehen einer Zwei-Klassen-Justiz zu vermeiden, in der nur die Fähigkeit des Beschuldigten zählt, für eine effektive Verteidigung zu zahlen.

 
5.3.    Die Versammlung fordert Frankreich zu folgenden Maßnahmen auf:

5.3.1.    Prüfung der vorgeschlagenen Abschaffung des juge d’instruction; sollte die Abschaffung dennoch erfolgen und die Zuständigkeiten dieser Einrichtung der Staatsanwaltschaft übertragen werden, Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwälte und Sicherstellung, dass, wie dies zurzeit vor dem juge d’instruction der Fall ist, die Anwälte der Verteidigung zumindest in dem gleichen Maße auf die Ermittlungsunterlagen zugreifen können wie die Staatsanwaltschaft;

5.3.2.    allmähliche Erhöhung der Gehälter der Richter und Staatsanwälte auf ein Niveau, das der Würde und Bedeutung ihres Amtes entspricht, bis sie (im Vergleich mit dem Durchschnittseinkommen der Gesamtbevölkerung) den Durchschnitt aller europäischen Staaten erreichen;

5.3.3.    Aufstockung der für Prozesskostenhilfe bereitstehenden Mittel entsprechend der Einführung stärker kontradiktorisch geprägter Elemente in das Strafjustizsystem;

5.3.4.    Erwägung, innerhalb des Conseil Supérieur de la Magistrature wieder eine Mehrheit von Richtern und Staatsanwälten einzuführen oder sicherzustellen, dass zu den von politischen Gremien ernannten Mitgliedern auch Vetreter oppositioneller Kräfte gehören und dass die Stellungnahme des Conseil Supérieur de la Magistrature auch in Bezug auf Entscheidungen über Staatsanwälte bindende Wirkung erhält.

5.4.    Die Versammlung fordert  Deutschland zu folgenden Maßnahmen auf:

5.4.1.    Erwägung der Errichtung eines gerichtlichen Selbstverwaltungssystems unter Berück­sichtigung der föderalen Struktur der justiziellen Selbstverwaltung und entsprechend dem Beispiel der in der übergroßen Mehrheit der europäischen Staaten bestehenden Gerichts­räte, um auf diese Weise die künftige Unabhängigkeit der Gerichte zu sichern;

5.4.2.    allmähliche Anhebung der Gehälter von Richtern und Staatsanwälten und Aufstockung der für Prozesskostenhilfe verfügbaren Mittel (wie dies in den obigen Ziffern 5.3.2. und 5.3.3. für Frankreich empfohlen wird);

5.4.3.    Abschaffung der Justizministern eingeräumten Möglichkeit, den Strafverfolgern in einzel­nen Fällen Weisungen zu erteilen;

5.4.4.    Ausbau der gesetzlichen wie der praktischen richterlichen Überwachung der Wahrnehmung der erweiterten Befugnisse von Staatsanwälten, insbesondere bei der Terrorismusbekämpfung;

 

5.5.    Die Versammlung fordert die Russische Föderation zu folgenden Maßnahmen auf:

5.5.1.    Stärkung der Unabhängigkeit der Richter, indem sichergestellt wird, dass ihre berufliche Leistung nicht an dem materiell-rechtlichen Inhalt ihrer Gerichtsurteile gemessen wird;

5.5.2.    Stärkung der Unabhängigkeit des Justizrats und der Transparenz seiner Verfahren;

5.5.3.    Stärkung des Systems der Zuweisung von Fällen zwischen Gerichten oder an einzelne Richter oder Kammern der Gerichte, um so jedes „forum shopping“ der Staatsanwaltschaft und jeden diesbezüglichen Ermessensspielraum der Gerichtsvorsitzenden auszuschließen;

5.5.4.    Förderung der Entwicklung eines Geistes der Unabhängigkeit und der kritischen Analyse in der Juristenausbildung im Allgemeinen und der Aus- und Weiterbildung von Richtern und Staatsanwälten im Besonderen und Ergreifen nachdrücklicher Sanktionen gegen lokale, republikanische oder föderale Bedienstete, die weiterhin versuchen, Richtern Weisungen zu erteilen sowie gegen Richter, die sich um solche Weisungen bemühen;

5.5.5.    effektiver Schutz von Verteidigern vor Durchsuchungen und der Beschlagnahme von Dokumenten, die unter die besonderen Beziehungen zwischen Anwalt und Mandant fallen, sowie vor anderen Formen des Drucks, darunter missbräuchliche Strafverfolgung und administrative Belästigung;

5.5.6.    Stärkung der Unabhängigkeit der Medien und Ermutigung letzterer zu Recherchen und Veröffentlichungen in Bezug auf Fälle des mutmaßlichen politisch motivierten Missbrauchs des Strafrechtssystems.

 

6.       Die Versammlung ruft die Europäische Kommission für Demokratie durch das Recht (Venedig-Kommission) und die Europäische Kommission für die Effizienz der Justiz (CEPEJ) dazu auf, auch weiterhin die Unabhängigkeit der Richterschaft in ganz Europa aufrechtzuerhalten und sich für die Unterstützung von in Schwierigkeiten geratenen Kollegen und gegen politisch motivierte Einmischungen auszusprechen, wo immer sie erfolgen mögen.

7.       Die Versammlung ist der Überzeugung, dass das Ministerkomitee Übereinkommen des Europarats auf dem Gebiet der rechtlichen Zusammenarbeit überprüfen sollte, um sicherzustellen, dass sie nicht für politisch motivierte Strafverfolgungen missbraucht werden können, solange nicht in allen Mitgliedstaaten des Europarats rechtlich wie in der Praxis vergleichbare Standards der richterlichen Unabhängigkeit erreicht worden sind.

8.       Schließlich fordert die Versammlung den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Prüfung der Frage auf, ob Anträge wegen behaupteter Verletzungen der richterlichen Unabhängigkeit und Fällen politisch motivierten Missbrauchs des Strafrechtssystems vorrangig behandelt werden sollten. Angesichts der grundlegenden Bedeutung unabhängiger Gerichte für den Schutz der Menschenrechte auf nationaler Ebene könnte eine solche Politik dazu beitragen, die Flut von Anträgen an den Europäischen Gerichtshof einzudämmen.

 

B.      Erläuternder Bericht von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Berichterstatterin

                                                                                                                                                        

Inhalt                                                                                                                                                    

 
I.      Einführung

II.     Fact-finding-Besuche in London, Paris, Moskau und Berlin: Sammlung einschlägiger
Informationen über vier verschiedene Kategorien von Strafrechtssytemen

i.    Das englische Modell

ii.... Das französische Modell

iii... Das deutsche Modell

iv.   Zurechnung von Staaten zu den ersten drei Modellen

v.   Immer noch ein System sui generis: die Russische Föderation

a.   Historische Wurzeln

b.   Druck auf Richter – Verurteilungsdruck

c.   Die Ansichten der Führung des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation

d.   Schwurgerichte – ist eine entscheidende Reform bedroht?

e.   Verteidiger – ein Risikoberuf?

f.    Unzulängliche Sicherungsmaßnahmen während des Verfahrens
            gegenüber Unregelmäßigkeiten in der Ermittlungsphase

g.   „Rechtsnihilismus“ – zwei typische Fälle

·     Die Jukos-Prozesse – Michail Chodorkowski, Platon Lebedew und andere

·     HSBC/Hermitage Capital

·     Andere Fälle vermuteter politischer Eingriffe in strafrechtliche Verfahrensabläufe

 

III.    Der Begriff der „politisch motivierten Missbräuche“ des Strafrechtssystems
und die Ergebnisse der vier Fact-Finding-Besuche

i.    Diskriminierung

ii.    Öffentliche Erklärungen hochgestellter Vertreter der Exekutive zur Schuld der Angeklagten

iii.   Unzureichend spezifizierte oder sich ständig ändernde Anklagepunkte

iv.   Mangelnde Unabhängigkeit des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft

 

IV.    Folgen für die Umsetzung der Übereinkommen des Europarats
betreffend gegenseitige Rechtshilfe bei Auslieferungen

 

V.     Schlussfolgerungen

 

I.        Einführung

1. Der Antrag, der dem vorliegenden Bericht – Missbrauch des Strafrechtssystems in Mitgliedstaaten des Europarats zugrundeliegt, deckt thematisch wie geografisch ein weites Feld ab. Ich habe deshalb in dem einführenden Bericht [1] versucht, in einem noch zu bewältigenden Rahmen zu bleiben, der sich in einem Bericht für die Parlamentarische Versammlung sinnvoll angehen lässt.

2. Hierbei ist besonders die Formulierung in dem letzten Absatz des Antrags hilfreich, den Marie-Louise Bemelmans-Videc und andere eingebracht haben:

„anhand konkreter Beispiele mögliche Missbräuche des Strafrechtssystems in Mitgliedstaaten und deren Auswirkung auf das Funktionieren der entsprechenden Rechtsinstrumente des Europarats zu untersuchen, um Empfehlungen für Verbesserungen entsprechender Rechtsinstrumente des Europarats sowie einzelstaatlicher Vorschriften und Praktiken abzugeben”

besonders hilfreich, da anerkannt wird, dass wir nur auf der Grundlage konkreter Beispiele arbeiten können. Die erste anstehende Aufgabe besteht darum in der Erarbeitung objektiver Kriterien, anhand derer wir konkrete Beispiele auswählen können, die am ehesten zu allgemeinen Schlussfolgerungen führen dürften wobei zu bedenken ist, dass wir nach Vorschlägen suchen, um die Instrumente des Europarats auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit sowie bei den einzelstaatlichen Vorschriften und Praktiken zu verbessern.

3. Entsprechend der Absprache im Ausschuss für Recht und Menschenrechte während der Erörterung des einführenden Berichts habe ich zwei Arten von Kriterien herangezogen, die mir auf objektivste und nicht diskrimierende Weise die Nennung der treffendsten Beispiele ermöglichen: Ermittlung verschiedener Kategorien von Strafrechtssystemen in Europa und Querverweise von diesen Kategorien auf Statistiken über die Zahl der Beschwerdenund der von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellten Verletzungen der verfahrensrechtlichen Schutzvorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere die Gewährleistung eines fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 EMRK.

II.      Fact-finding-Besuche in London, Paris, Moskau und Berlin: Sammlung einschlägiger
Informationen über vier verschiedene Familien von Strafrechtssystemen

4. Wie in dem einführenden Bericht bereits angekündigt, habe ich mich einer Klassifizierung der Strafrechtssysteme in Europa danach bedient,, ob sie sich auf ein stärker „kontradiktorisches“ oder ein eher „inquisitorisches“ [2] Verfahrenssystem stützen – wobei zuerst einmal davon ausgegangen wurde, dass „kontradiktorische“ Elemente eine bessere Absicherung gegenüber politisch motivierten oder in anderer Form missbräuchlichen Einmischungen ermöglichen. Ich empfand dieses Vorgehen als nützlich, um etwas Ordnung in die Untersuchung der verschiedenen Strafrechtssysteme in Europa zu bringen. Diese lassen sich in vier Gruppen einteilen: Eine ist überwiegend kontradiktorisch, die zweite vorwiegend inquisitorisch, eine dritte verquickt inquisitorische und kontradiktorische Bestandteile, und schließlich gibt es noch eine vierte Gruppe, die unabhängig von ihren formalen Merkmalen in der Praxis stark von der sowjetischen Rechtstradition beeinflusst wird.

5. In den als kontradiktorisch beschriebenen Systemen sind die Parteien der Angeklagte (oder zumeist der jeweilige Anwalt) und die Staatsanwaltschaft für die Prozessvorbereitung der Rechtssache zuständig, und der Richter oder der über die Beschwerde entscheidende Beamte (adjudicator) tritt wie bei einem Fußballspiel als Schiedsrichter auf, sorgt für die Einhaltung der Spielregeln (Verfahrenserfordernisse) und entscheidet (oder prüft den Beschluss eines Geschworenengerichts) in der Frage der Schuld oder Unschuld des Angeklagten allein anhand der von den Parteien vorgelegten Beweismaterialien. In solchen Systemen werden sowohl die Garantien für die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit als auch die aktive Rolle der Verteidiger als entscheidende Sicherungen gegenüber einem möglichen Machtmissbrauch durch die Exekutive betrachtet. Eine Schwäche dieses Systems liegt darin, dass es sich weitgehend auf die Qualität und die Mittel stützt, über die die Vertreter der Gegenseite verfügen.

6. In inquisitorischen Systemen spielen Richter die entscheidende Rolle bei den Ermittlungen und der Bestellung und Einvernahme der Zeugen in dem Prozess, wobei die Staatsanwaltschaft und die Verteidiger bei dem Verfahren eher eine subsidiäre Rolle spielen. In solchen Systemen wird davon ausgegangen, dass im Allgemeinen angesichts der Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit darauf vertraut werden kann, dass das Gerichtswesen neutrale Emittlungen des tatsächlichen Sachverhalts anstellt. Diese Annahme hält einer näheren Prüfung jedoch nicht immer stand.

7. Diese breit angelegten Systeme wurden in den entsprechenden Staaten selbst angepasst – insbesondere wegen der missbräuchlichen Rolle des juge d'instruction in der Ermittlungsphase der inquisitorischen Systeme; schließlich können Richter genau das gleiche Maß an Unzulänglichkeiten aufweisen wie Parteienvertreter im kontradiktorischen System. Anpassungsmaßnahmen wurden auch mit Forderungen des EGMR begründet, der in Artikel 6 der EMRK, gerade auch im Hinblick auf Waffen­gleichheit, zweifellos bestimmte kontradiktorische Erfordernisse festgelegt hat.

8. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Strafrechtssystemen ist die mehr oder minder stark ausgeprägte Prävalenz des „Legalitätsprinzips“, nach dem die Behörden zur Verfolgung aller Straftaten verpflichtet sind, die zu ihrer Kenntnis gelangen. Nach dem Alternativmodell verfügen die Juustizbehörden über einen Ermessensspielraum („Opportunitätsprinzip der Strafverfolgung“). Der Unterschied ist in der Praxis oft nicht so wichtig, da vom Legalitätsprinzip ausgehende Staaten (wie Deutschland) ein gewisses Maß an Flexibilität walten lassen müssen, um eine rationelle Nutzung der justiziellen Ressourcen zu gestatten (z.B. durch die de minimis-Vorschrift) und bestimmte Tatbestände erst auf Antrag des Opfers verfolgt werden, während die Staaten, die einen Ermessensspielraum zulassen (wie Frankreich, England und Wales) Verhaltenskodizes oder allgemeine Leitlinien eingeführt haben, um die Wahrung des öffentlichen Interesses und die Gleichbehqandlung zu gewährleisten. Wie wir jedoch sehen werden, wirft jedes Ermessen stets die Frage auf, ob „politische“ Stellen die Möglichkeit haben, seine Ausübung ganz allgemein (grundsätzlich kein Problem) oder in einzelnen Fällen (ein denkbares Einfallstor für politisch motivierten Missbrauch) zu beeinflussen.

9. Die oben erwähnten Anpassungen der kontradiktorischen wie der inquisitorischen Strafrechtssysteme haben zu einer Aufteilung dieser Systeme in vier große Gruppen geführt: das englische, das französische und das deutsche [3] sowie das russische System. Das erste deckt über weite Strecken die Common Law-Gerichtsbarkeit in Europa ab [4], das zweite Modell gilt in vielen Staaten Europas auch außerhalb Frankreichs infolge des Einflusses des auf die Zeit Napoleons zurückgehenden Systems. Bei dem dritten System handelt es sich um einen neueren Ansatz, der einige wesentliche Abweichungen von dem französischen Modell aufweist (gerade auch beim Legalitätsprinzip, ohne jedoch dem in England und Wales vorherrschenden rein kontradiktorischen System nahezukommen). Das vierte System ringt immer noch mit dem Erbe seiner sowjetischen Vergangenheit, zu dem die alles überragende Rolle der prokuratura (Staatsanwaltschaft) und insbesondere in der konkreten Praxis Probleme mit der richterlichen Unabhängigkeit gehören.


i.        Das englische Modell


10.
Das englische System ist seinem Wesen nach, wie oben schon beschrieben wurde, kontradiktorisch, sodass die Parteien bei dem Zusammentragen und der Vorbereitung von Beweismaterialien vor dem Verfahren und deren Vorlage im Prozess selbst eine unverzichtbare Rolle spielen. Der Richter nimmt eine neutrale Stellung ein und sorgt dafür, dass die Vorschriften über das Verfahren und die Zulässigkeit von Beweisen während des Prozesses befolgt werden, ist jedoch für die Ermittlung von Schuld oder Unschuld (magistrates’ courts) zuständig oder hat zu gewährleisten, dass die Geschworenen auf möglichst objektive Weise zu einem solchen Ermittlungsergebnis gelangen. Er kann Zeugen und Sachverständigen Fragen stellen, doch sollte dies nur der Klärung dienen und nicht das Verfahren beherrschen. Dennoch sind die Persönlichkeit des Richters und seine Unabhängigkeit für das Funktionieren des Systems von großer Bedeutung.

11. Während meines Besuchs im März/April 2009 in London beeindruckte mich der ausgeprägte Geist der Unabhängigkeit, wie er sowohl in Gerichtskreisen als auch im Büro des Director of Public Prosecution (DPP) herrschte. Auf meine hypothetische Standardfrage, wie er bei einem Anruf aus der Downing Street reagieren würde, in dem ihm gesagt würde, wie er in einem bestimmten Fall vorzugehen habe, antwortete er ohne zu zögern vor seinen leitenden Mitarbeitern: „Ich würde ablehnen und wenn der Gesprächspartner insistieren sollte, würde ich zurücktreten und meine leitenden Mitarbeiter würden mir wohl folgen. Dabei ist es sehr wahrscheilich, dass innerhalb weniger Tage nach unserer Pressekonferenz, auf der wir unsere Rücktrittsgründe erklären würden, die Regierung stürzen würde…“ Seine Mitarbeiter nickten zustimmend. Ich für mein Teil war von der offenen Haltung des Direktors recht beeindruckt. Mehrere Barristers und Solicitors hatten angemerkt, allein schon die Ernennung dieses wegen seiner Standhaftigkeit hoch angesehenen Juristen demonstriere die politische Unterstützung der Regierung für die Unabhängigkeit dieses Amtes.

12. Die allgemeinen Grundsätze der Arbeit des Crown Prosecution Service (CPS) sind in dem „Code“ [5] niedergelegt, von dem sich alle Staatsanwälte, auch der DPP selbst, in ihrer Tagesarbeit leiten lassen. Da er der breiten Öffentlichkeit ohne weiteres verfügbar und klar und knapp abgefasst ist, stellt er ein wichtiges Hilfsmittel dafür dar, das Fairness und Transparenz gewahrt bleiben und dies auch allgemein wahrgenommen wird.

13. Der gleiche Geist der Unabhängigkeit herrscht auch unter englischen Richtern. In ihrer Stellung sind sie traditionsgemäß vor jeder politischen Einflussnahme sehr gut geschützt. Nach meinen Gesprächen in London kann ich bestätigen, dass die Verfahren zur Ernennung und Beförderung von Richtern und sehr selten für Disziplinarmaßnahmen ein hohes Maß an Transparenz und Objektivität sicherstellen.

14. Die 2006 erfolgte Einsetzung der Judicial Appointments Commission (JAC) im Zuge der Umsetzung des Constitutional Reform Act stärkt den Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte von politischer Einflussnahme weiter, auch im Hinblick auf die Ernennung von Richtern. Auch für die Beförderung von Richtern gilt ein ähnliches, von einem Panel getragenes Verfahren. Die JAC gibt in ihrem letzten Jahresbericht [6] stolz an, 2007/08 habe sie 2535 Anträge bearbeitet, 458 Richter ausgewählt, und der Lord Chancellor habe alle ihre Ernennungsempfehlungen angenommen. Im Justizministerium wurde mir mitgeteilt, der Lord Chancellor könne die Empfehlungen der JAC in sehr begrenztem Maße in Frage ziehen, jedoch in keinem Fall einen von der JAC empfohlenen Bewerber durch eine Person eigener Wahl ersetzen. Die Zusammensetzung der JAC, der mehrheitlich Vertreter des Gerichtswesens und Rechtspraktiker angehören, ebenso aber auch qualifizierte Laien wie Universitätsangehörige und Journalisten (jedoch keine Politiker) sowie ihre praktische Arbeit werden in dem oben erwähnten Bericht gut erläutert. Mit der Einsetzung der JAC sollten die Transparenz und die öffentliche Vertrauenswürdigkeit eines Prozesses weiter gesteigert werden, der bereits aufgrund der geschichtlichen Entwicklung stark vom Geist der Unabhängigkeit geprägt war. Zugleich sollte anderen Ländern ein Beispiel gegeben werden. In diesem Zusammenhang möchte ich hinzusetzen, dass das Vereinigte Königreich auch einer der wenigen Vertragsstaaten der EMRK ist, der ein transparentes Verfahren für die Auswahl von Bewerbern für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingeführt hat. [7]

15. Im englischen Strafrechtssystem gibt es jedoch noch einen weiteren Weg, über den in einzelnen Fällen eine politische Einflussnahme denkbar erscheint: die Rolle des Attorney General. In diesem Amt verbinden sich die Verwaltung des Rechtswesens und die Bereitstellung unabhängiger Rechtsberatung mit den politischen Verpflichtungen eines Regierungsmitglieds. Der Amtsinhaber steht zugleich den Staatsanwaltschaften in England und Wales vor. Als ich den DPP um Erläuterungen zu den Beziehungen zwischen seinem Amt und dem des Attorney General bat, bekam ich eine diplomatische Nichtantwort und wurde auf einen Bericht des Verfassungsausschusses des Unterhauses über die verfassungsmäßige Rolle des Attorney General verwiesen [8]. Der Ausschuss stellte fest, „[d]as Beweismaterial, das wir in Verbindung mit der Rechtssache BAe zusammentrugen, war besonders aufschlussreich und verdeutlichte die Spannungen, die mit der Doppelfunktion des Attorney General und vor allem den bisweilen undurchsichtigen Beziehungen mit der Staatsanwaltschaft verbunden sind.” [9]

16. Der Fall British Aerospace (BAe) wurde in der Tat von allen meinen Gesprächspartnern in London erwähnt, die ich nach konkreten Beispielen für politisch motivierte Einmischung in das Strafrechtssystem des Vereinigten Königreichs fragte. Das hervorstechendste Beispiel mutmaßlicher politischer Einmischung in das Strafrechtssystem in den letzten Jahren war Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens, das gemeinsam von Corner House und der Campaign against the Arms Trade gegen die Entscheidung des Director of the Serious Frauds Office (SFO), Robert Wardle, angestrengt wurde, keine Strafverfolgung gegen BAe einzuleiten. Die Ermittlungen des SFO hatten sich auf Schmiergelder konzentriert, die BAe angeblich Mitgliedern der saudiarabischen Königsfamilie und der Regierung Saudi-Arabiens gezahlt hatte, um sich eine Reihe lukrativer Aufträge für Waffenverkäufe aus dem Vereinigten Königreich nach Saudi-Arabien zu sichern die oft so genannten Al Yamamah-Rüstungsverträge.

17. Diese Korruptionsvorwürfe wurden erstmals im September 2003 in einer überregionalen Zeitung veröffentlicht, in der es hieß, ein ehemaliger BAe-Mitarbeiter sei Anfang 2001 mit Angaben über einen „Schmiergeldfonds“ von 60 Mio. Pfund an das SFO herangetreten, Mittel, die BAe angeblich zur Finanzierung der behaupteten Bestechungszahlungen verwendete [10]. Festnahmen erfolgten im November 2004. Ende 2005 unterließ BAe die Vorlage der zwingend vorgeschriebenen Unterlagen, mit denen das Unternehmen Einzelheiten über seine Offshore-Zahlungen an den Nahen Osten offenlegen sollte.

18.          Ende 2006, als die Ermittlungen mindestens ein weiteres Jahr weiterzugehen drohten, begann BAe Verhandlungen über einen neuen Auftrag für den Verkauf von Eurofighter Typhoons nach Saudi‑Arabien. Der Auftragswert wurde auf £ 6-10 Mrd. geschätzt, wodurch in Großbritannien potenziell 5 000-10 000 Arbeitsplätze hätten geschaffen werden können. In spekulativen Pressemeldungen hieß es anschließend, Saudi-Arabien habe dem Vereinigten Königreich eine Frist von 10 Tagen gesetzt, um die SFO-Ermittlungen im öffentlichen Interesse auszusetzen, da der Auftrag sonst an Frankreich gehen werde [11]. Als Reaktion wurde eine PR-Kampagne durchgeführt, um deutlich zu machen, wie wichtig die Erlangung dieses Auftrags für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Großbritannien sei.

19.          Im Dezember 2006 gab der Attorney General (Lord Goldsmith) gab, die Ermittlungen würden aus öffentlichem Interesse und angesichts von Vorstellungen eingestellt, die ihm gegenüber wie auch gegenüber Herrn Wardle in Bezug auf die Notwendigkeit der Gewährleistung der nationalen und internationalen Sicherheit vorgetragen worden seien. Lord Goldsmith erklärte im Oberhaus:
 „kommerziellen Interessen oder nationalen Wirtschaftsinteressen ist kein Gewicht beigemessen worden” [12]. Premierminister Tony Blair rechtfertigte den Verzicht auf eine Strafverfolgung mit den Worten: „Unsere
Beziehungen zu Saudi-Arabien sind für unser Land unter dem Blickwinkel der Terrorismusbekämpfung, des größeren Nahen Ostens und der Hilfe für Israel und Palästina von entscheidender Bedeutung. Dieses strategische Interest steht an erster Stelle.” [13]

20.          Andere waren nicht dieser Ansicht, insbesondere nicht die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die sich mit einer förmlichen Beschwerde an das Foreign and Commonwealth Office wandte und eine Erklärung dafür verlangte, weshalb die Ermittlungen eingestellt worden waren. Transparency International und eine Reihe von Unterhausabgeordneten drängten die Regierung zur Wiederaufnahme der Ermittlungen, und in einem Zeitungsinterview räumte Herr Wardle ein, die Entscheidung, von einer Strafverfolgung abzusehen, könnte „dem Ruf des Vereinigten Königreichs als Land, das zur Ausrottung der Korruption entschlossen ist” [14] geschadet haben. Im November 2007 wurde es zwei politischen Interessengruppen (Corner House und der Campaign against the Arms Trade) gestattet, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, um den Beschluss des SFO, die Ermittlungen fallen zu lassen, anzufechten.

21.     In dem erstinstanzlichen Urteil vom April 2008 entschied der High Court, das SFO habe mit der Einstellung der Ermittlungen gesetzwidrig gehandelt [15]. Der Gerichtshof übte vernichtende Kritik an dem politischen Druck, der ausgeübt worden war, um den Verzicht auf eine Strafverfolgung zu erwirken und merkte an, dass „ein so trübes Bild der Ohnmacht des Gesetzes zumindest Bestürzung, wenn nicht Empörung hervorruft“. Der Gerichtshof verurteilte, wie Minister unter „eklatanten Bedrohungen“, die Zusammenarbeit mit den Saudis bei der Terrorbekämpfung werde zu Ende gehen, wenn die Ermittlungen nicht fallengelassen würden, „eingeknickt“ waren: Es war so, erkärte das Gericht, als sei der saudische Prinz Bandar [einer der angeblichen Schmiergeldempfänger] „in die Downing Street Nr. 10 gegangen und habe erklärt ‚Hört auf damit!’”. Wird einer solchen Einmischung nachgegeben, führte der Gerichtshof aus, „werden lediglich die Mächtigen, die Inhaber einer wichtigen strategischen und politischen Stellung, zur Wiederholung solcher Drohungen ermutigt, in dem Wissen, dass die Gerichte sich bei dem Beschluss eines Staatsanwalts, eine Sache fallenzulassen, nicht einschalten werden“. Die Zeitung The Times beschrieb das Urteil als „einen der am schärfsten formulierten Angriffe auf das Handeln der Regierung“ [16].

22.          Im Hinblick auf Art und Ausmaß der politischen Einmischung erscheinen folgende Punkte bemerkenswert, die von dem High Court herausgearbeitet und in dem überaus kritischen Bericht der OECD über das Vereinigte Königreich vom 16. Oktober 2008 [17] näher ergründet wurden:


-        Das
Vereinigte Königreich hatte nur geringe Anstrengungen unternommen, um das OECD-Übereinkommen gegen Bestechung (das Übereinkommen) in innerstaatliches Recht umzusetzen. Besonders bedenklich war das Fehlen jedes spezifischen Erfordernisses, Art. 5 des Übereinkommens einzuhalten, der verlangt, Erwägungen betreffend das „nationale wirtschaftliche Interesse, die potenziellen Auswirkungen auf Beziehungen zu einem anderen Staat oder die Identität der beteiligten natürlichen oder juristischen Personen“ dürften keine Auswirkungen auf den Beschluss haben, eine Strafverfolgung einzuleiten. Die OECD merkte an, unter bestimmten Umständen könnte dieses Erfordernis scheinbar mit der Verpflichtung des SFO in Konflikt geraten zu prüfen, ob eine Strafverfolgung nach dem inländischen Crown Prosecutors Code im „öffentlichen Interesse“ liege. Darüber hinaus hatte Tony Blair, um den Wortlaut von Artikel 5 zu übernehmen, auf die „Beziehungen (des Vereinigten Königreichs) zu anderen Staaten“ Bezug genommen, als er die Entscheidung zu rechtfertigen versuchte, gegen BAe nicht strafrechtlich vorzugehen und es wurde weithin spekuliert, dass die „wirtschaftlichen Interessen“ des Vereinigten Königreichs den eigentlichen Grund der Entscheidung darstellten.

-         Das Criminal Justice Act von 1997 war, wie es scheint, erarbeitet worden, um Lord Goldsmith, dem Attorney General, die Befugnis zu gewähren, den Entscheidungsprozess beim Direktor des SFO so zu beaufsichtigen, dass er weder unabhängig war noch der Rechenschaftspflicht genügte. Wie der Gerichtshof anmerkte, unterlag Lord Goldsmith selbst politischem Druck aus zahlreichen Richtungen. Zuerst einmal tat der Premierminister den nach Ansicht des Gerichtshofs „außerordentlichen Schritt“, ihn anzuschreiben, was den „Verdacht“ erweckte, das Rechtfertigungsargument der Sicherheit, das beide Männer anschließend lautstark vortrugen, sei ein „nützlicher Vorwand“ gewesen, um SFO-Ermittlungen ein Ende zu setzen, die kommerziellen Interessen schadeten. Zweitens schrieben Minister und andere staatliche Amtsträger (keine Staatsanwälte) an Lord Goldsmith, um sich für die Einstellung der Ermittlungen aufgrund nationaler Wirtschaftsinteressen auszusprechen und die Nichtanwendbarkeit von Artikel 5 des OECD-Über­einkommens geltend zu machen. Drittens schrieb BAe selbst im Dezember 2005 an Lord Goldsmith und legte ihm nahe, die Ermittlungen fallenzulassen. Diese Schreiben nahmen Bezug auf Treffen zwischen saudischen Beamten und dem Botschafter des Vereinigten Königreichs in Saudi-Arabien, mit denen die Grundlage für die neuen Eurofighter Typhoon-Geschäfte und einen möglichen Verkaufsbesuch des Verteidigungsministers des Vereinigten Königreichs, Herrn Cowper-Coles, gelegt werden sollte. (Herr Cowper-Coles teilte später Herrn Wardle mit, das Leben britischer Bürger wäre gefährdet, sollte die Rechtssache nicht eingestellt werden.) Angesichts dieses Drucks von allen Seiten schien sich Lord Goldsmiths Einschätzung der Gefahr für die nationale Sicherheit den Wünschen seiner politischen Oberen anzunähern. Die OECD bezeichnet seine Einschätzung als „zusammenhanglos und etwas inkohärent“.

-         Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, ganz offensichtlich hätten weder Lord Goldsmith, Herr Wardle noch irgendwer in der Regierung oder beim SFO rechtmäßige alternative Vorgehensweisen als Reaktion auf die saudischen Drohungen geprüft z.B. durch einen Hinweis gegenüber den saudischen Behörden auf die Unabhängigkeit des SFO oder eine Vorlage beim VN-Sicherheitsrat mit einem Hinweis auf die ausgesprochene Drohung, die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung zu verweigern.

23.          Am 30. Juli 2008 verwarf das Oberhaus einstimmig die Entscheidung des High Court und erklärte,  der Beschluss über die Einstellung der Ermittlungen sei rechtmäßig gewesen. [18]  Das Oberhaus stellte fest, die Gerichte im Vereinigten Königreich hätten sich im Laufe der Geschichte generell zögerlich gezeigt, Entscheidungen bei Ermittlungen im Zuge der Strafverfolgung zu überprüfen. Der High Court sei jedoch gegen diesen Trend angegangen, indem er andeutete, die in dem vorliegenden Fall anstehende Thematik sei auf saudische Bedrohungen der Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen. Der High Court hatte die Auffassung vertreten, sollte die Bedrohung die Strafgerichtsbarkeit in Großbritannien beeinträchtigen, seien die Gerichte verpflichtet, die erforderlichen Schritte zu prüfen, um die Integrität des Strafrechtssystems zu erhalten. Wie oben schon angegeben, war der High Court zu dem Schluss gelangt, ein Nachgeben angesichts einer Drohung wäre nur gesetzmäßig, wenn sich nachweisen ließe, dass dem Entscheider keine rechtmäßige Handlungsalternative zu Gebote stand.

24.          Dieser Grundsatz wurde von dem Oberhaus mit der Begründung zurückgewiesen, hierfür lägen keine Präzedenzfälle vor und er lenke von der richtigen Frage ab, der nämlich, ob Herr Wardle seinen Ermessensspielraum überschritten habe, indem er das öffentliche Interesse an der Fortsetzung der Ermittlungen und das damit konkurrierende öffentliche Interesse am Schutz des Lebens britischer Staatsbürger durch Einstellung der Ermittlungen gegeneinander abwog. Das Oberhaus erkannte an, dass er mit der „häßlichen und natürlich unerwünschten Drohung“ konfrontiert gewesen sei, Saudi-Arabien könne seine Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung einstellen, was das Leben britischer Staatsbürger hätte gefährden können. Dementsprechend bedeute die beschlossene Einstellung der Ermittlungen „keine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit“ und „es (sei) in der Tat zu bezweifeln, ob ein verantwortungsbewusster Entscheidungsträger […] hätte anders entscheiden können“.

25.          Unbeschadet der Entscheidung des Oberhauses gelten viele kritische Anmerkungen des  High Court und der OECD auch weiterhin, insbesondere die Bedenken der OECD wegen der durch die bisweilen widersprüch­lichen politischen und rechtlichen Funktionen des Attorney General aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Probleme und zugleich das notorische Zögern des Vereinigten Königreichs bei der Umsetzung des von ihr ratifizierten Übereinkommens. Die gegensätzlichen  Entscheidungen des  High Court und des Oberhauses unterstreichen vielleicht, wie schwierig es ist, konkurrierende öffentliche Interessen gegeneinander abzuwägen, wenn zu entscheiden ist, ob in politisch bedeutsamen Fällen eine Strafverfolgung erfolgen soll. Wie das Oberhaus anerkannte, müsste der Entscheidungsträger jeden Beweis oder Ratschlag unter die Lupe nehmen, um ihn auf Richtigkeit zu überprüfen und angemessen zu gewichten. Es lassen sich jedoch leicht die Probleme vorstellen, vor denen Entscheider stehen dürften, denen behauptete Bedrohungen der nationalen Sicherheit entgegengehalten werden. Solche Behauptungen sind oft nicht spezifisch genug, und wer sie aufstellt, dürfte kaum bereit sein, viel über die den Aussagen zugrunde liegenden Tatsachen preiszugeben oder gar Entscheidungsträgern handfeste Beweise zu liefern.

26.          Wie immer die genaue Verbindung zwischen Fragen der nationalen Sicherheit und kommerziellen Erwägungen ausgesehen haben mag, aus der die saudischen Drohungen hervorgingen und die wiederum den Ratschlag beeinflussten, den Herr Wardle erhielt, jedenfalls lebten die Ermittlungen im Juni 2007 wieder auf, als das Justizministerium der Vereinigten Staaten eigene Ermittlungen zu Al Yamamah aufnahm und Behauptungen nachging, eine Bank in den USA sei eingeschaltet worden, um Zahlungen an den saudischen Prinzen Bandar weiterzuleiten. Die Ermittlungen der Vereinigten Staaten sind noch im Gange.

27.          Der andere hochbedeutende Fall, der zur Einleitung der Untersuchung über die Rolle des Attorney General beitrug, sind die Ermittlungen in der Rechtssache „Cash for honours“.

28.          Mit „Cash for honours“ wurde der politische Skandal im Vereinigten Königreich in den Jahren 2006 und 2007 bezeichnet, bei dem es um die Verbindung zwischen Parteispenden und der Vergabe von Adelstiteln auf Lebenszeit ging. Ein Schlupfloch im britischen Wahlgesetz bringt es mit sich, dass zwar selbst kleine Geldspenden an eine politische Partei offiziell deklariert werden müssen, die Kreditvergabe zu marktüblichen Zinssätzen jedoch nicht öffentlich angegeben werden muss. Während der polizeilichen Ermittlungen wurden verschiedene Mitglieder aller drei großen Parteien (darunter auch Premierminister Tony Blair) verhört und der Hauptspendensammler der Labour Party, Lord Levy, zweimal festgenommen. Schließlich gelangte der Crown Prosecution Service zu der Ansicht, eine Strafverfolgung sei nicht angezeigt: In der Entscheidung hieß es, zwar könnten Adelsprädikate im Austausch gegen Kredite vergeben worden sein, doch habe man keine unmittelbaren Beweise für eine vorherige Absprache darüber finden können, was die Voraussetzung für eine erfolgreiche Strafverfolgung darstelle.

29.          Unter dem Blickwinkel politisierter strafrechtlicher Ermittlungen ist der Skandal insofern relevant, als beide Seiten – die Politiker, gegen die ermittelt wurde und die ermittelnden Polizeibeamten – unrechtmäßige Einmischung in die Arbeit der jeweils anderen Seite geltend machten. Zum einen sollen sich in der Labour Party einige beschwert haben, mit den polizeilichen Ermittlungen, die der Partei ihre Finanzmittel nahmen, nachdem die Kredite zurückgezahlt werden mussten, sei versucht worden, der persönlichen Reputation bestimmter Politiker Schaden zuzufügen und sie seien bewusst hervorgeholt worden, um die Kampagne der Partei in der Zeit unmittelbar vor Gordon Browns Amtsantritt als Premierminister und der möglichen Ankündigung von Parlamentswahlen zu behindern. Zum anderen teilte der mit den Ermittlungen betraute leitende Polizeibeamte dem Sonderausschuss des Unterhauses für öffentliche Verwaltung mit, einige Politiker hätten auf ihn „starken Druck“ ausgeübt und die Ermittlungen als „politisches, nicht als strafrechtliches Problem“ behandelt. [19]

30.          Solche gegenseitigen Beschuldigungen sind möglicherweise unvermeidlich, wenn strafrechtliche Ermittlungen sich unmittelbar auf das Handeln von Politikern konzentrieren, deren berechtigtes Interesse daran, sich gegen strafrechtliche Vorwürfe zu verteidigen, von anderen fast immer als politische Einmischung in das jeweilige Strafverfahren dargestellt werden kann. Der Skandal unterstrich allerdings einmal mehr das kontroverse Handeln von Lord Goldsmith, der darauf bestand mitzuentschieden, ob Tony Blair und andere Politiker angeklagt werden sollten – ungeachtet des potentiellen Interessenkonflikts   aufgrund seiner engen Beziehung zu dem Premierminister und der Labour Party. Lord Goldsmith versuchte auch, die BBC an der Veröffentlichung eines Berichts über den Skandal zu hindern, in dem ein Briefwechsel zwischen der Downing Street und Lord Levy über Spenden offengelegt wurde. Auch wenn die E-Mail schließlich veröffentlicht wurde, nachdem wohlgemerkt die Polizei dem Crown Prosecution Service ihren Bericht vorgelegt hatte, löste der Versuch von Lord Goldsmith, ihn zu unterdrücken, in weiten Kreisen Empörung über eine „Vertuschung“ von Beweismaterial zu Lasten der Labour Party sowie weitere Kritik an der Unvereinbarkeit der politischen und der rechtlichen Aufgaben des Attorney General aus.

31.          Als Gordon Brown im Juli 2007 Premierminister wurde, gab er bekannt, „die Rolle des Attorney General, die rechtliche und ministerielle Funktionen verbindet, (müsse) sich ändern“. Das führte zu einer amtlichen öffentlichen Anhörung über die Rolle des Attorney General, um sicherzustellen, dass „das Amt weiterhin das Vertrauen der Öffentlichkeit genießt“. Bei der Übernahme des Amtes von Lord Goldsmith schien der neue Attorney General, Lady Scotland, auch zu akzeptieren, dass ihre Rolle sich würde ändern müssen. Allerdings scheint das Constitutional Reform Bill, das Anfang 2008 im Gemeinsamen Ausschuss des Unterhauses geprüft wurde und im Laufe dieses Jahres im Parlament erörtert werden soll, kaum einen Unterschied auszumachen: Der Gesetzentwurf ist so abgefasst, dass der Attorney General weiterhin die Befugnis hat, Ermittlungen des SFO zu unterbinden und strafrechtliche Verfolgungen einzustellen. Lord Falconer, früher Lord Chancellor, bezeichnete den Gesetzentwurf als „verpasste Gelegenheit“ und setzte hinzu, dass „der Attorney General mit seinen Ratschlägen zu Fragen des öffentlichen Interesses gegenüber dem Parlament rechenschaftspflichtig sein sollte, damit bei einer einzelnen Strafverfolgung kein politischer Druck zu erkennen ist.“ [20]

32.     Dieser eher behutsame Reformvorschlag hält die Vorrechte des Attorney General effektiv aufrecht, was die Überwachung der CPS und des SFO angeht, wobei die Wahrnehmung dieser Vorrechte die „rote Linie“ unstatthafter politischer Einmischung überschreiten mag oder auch nicht. Er entspricht der „Reaktion der Regierung auf den oben erwähnten Bericht über die verfassungsmäßige Rolle des Attorney General“ [21], in dem einige, aber nicht alle Empfehlungen des Ausschusses angenommen werden. Insbesondere „schlägt (die Regierung) vor, „gesetzgeberisch ausdrücklich vorzusehen, dass der Attorney General in einem einzelnen Fall keine Weisungsbefugnis für eine Strafverfolgung oder deren Unterbleiben besitzt (außer wenn es um die nationale Sicherheit geht).“ [22] Das Gesetz „schreibt dem Attorney General vor, jede Ausübung der Befugnis sobald wie möglich dem Parlament zu berichten (außer wenn zum Schutz der nationalen Sicherheit eine Verzögerung nicht zu vermeiden ist).” Was die „inhärenten Spannungen“ zwischen den verschiedenen Aufgaben des Attorney General angeht, ist die Regierung der Ansicht, dass die „Synergie zwischen den Funktionen des Attorney General bedeutet, dass ihre Konzentration in einem einzigen Amt die Ausübung einer jeden von ihnen stärkt“. Insgesamt gesehen „nimmt (die Regierung) die Bedenken des Ausschusses und einiger Antragsgegner zur Kenntnis, wonach die Zusammenlegung dieser Aufgaben den Eindruck erweckte, es könne zu einem Interessenkonflikt kommen“, wobei sie den Antragsgegnern zustimmt, die der Auffassung waren, dass „eine Fehlwahrnehmung … eine schwache Grundlage für eine Reform (ist)“ (Lord Lloyd of Berwick) [23].

33.     Meiner Ansicht nach geben die Befugnisse des Attorney General in Bezug auf einzelne Fälle potenziell zu Bedenken Anlass – selbst nach dem Inkrafttreten der vorgeschlagenen Reform. Zwar wird klargestellt werden, dass diese Befugnisse sich auf „außergewöhnliche“ Fälle beschränken müssen, doch bergen gewöhnlich gerade diese „außergewöhnlichen“ Fälle im Grenzbereich zwischen Politik und Korruption die größte Versuchung einer „politisch motivierten” Einmischung. Der Begriff der Staatssicherheit lässt sich auf verschiedenste Art auslegen, und die Ansichten des Oberhauses in der Rechtssache BAe [24] bieten der Regierung viel Spielraum. Naheliegende Abhilfemaßnahmen sind Transparenz und Rechenschaftspflicht. Es ist darum unglücklich, dass die vorgeschlagene Verpflichtung des Attorney General zur zeitnahen Berichterstattung vor dem Parlament über die Inanspruchnahme seiner Vorrechte wiederum einer „Ausnahmeregelung für die nationale Sicherheit“ unterliegt.

34.     Wie es in Ländern wie dem Vereinigten Königreich oft der Fall ist, wo das Rechtssystem „seit unvordenklichen Zeiten“ von einem Fall zum nächsten gewachsen ist, sind in der Praxis ausdrückliche Rechtsvorschriften häufig weniger wichtig als die althergebrachte Kultur der Unabhängigkeit und der Stärke der Persönlichkeiten, denen hohe Stellungen anvertraut wurden und die ihre Aufgaben unter dem prüfenden Auge eines seine Überwachungspflicht sehr ernst nehmenden Parlaments und lebendiger, unabhängiger Medien erfüllen. Vor diesem Hintergrund finde ich die Lage im Vereinigten Königreich im Allgemeinen annehmbar. Ich neige allerdings dennoch zur Unterstützung der Schlussfolgerungen des Sonder­ausschus­ses für Verfassungsfragen und würde mich in der Rechtssache BAe eher auf die Seite des High Court als auf die des Oberhauses stellen – eine Position, die ich auch gerne in der Entschließung der Versammlung wiederfinden möchte.

ii.       Das französische Modell

35.     In dem französischen System werden die Ermittlungen in einer Rechtssache und die Beweisaufnahme in schwerwiegenden oder sehr komplexen Fällen (rund 5% aller Strafsachen) einem Richter – dem juge d’instruction – übertragen. In solchen Fällen verhört der juge d'instruction den Beschuldigten und vernimmt die Zeugen ein, prüft alle weiteren Beweisunterlagen, holt den Rat von Sachverständigen ein und kann Expertengutachten anfordern. Er übergibt den Fall dem Staatsanwalt, wenn die Sache verfahrensreif ist. In der großen Mehrheit aller Fälle hat der Staatsanwalt den Fall für den Prozess vorzubereiten – wiederum im „inquisitorischen“ Verfahren (ex officio), mit Unterstützung der Polizei (police judiciaire). Die Rolle des Anwalts der Verteidigung bleibt zumeist auf Fragen der Kaution und des Gewahrsams beschränkt, wobei der Anwalt außerdem vor dem Richter und den Geschworenen für den Angeklagten eintreten darf. Der Zugang des Verteidigers zu den Ermittlungsakten hängt davon ab, ob ein juge d’instruction beteiligt ist – nur dann kann er auf die Akten zugreifen und die Einleitung von Schritten verlangen. Während polizeilicher Ermittlungen ohne Bestellung eines juge d’instruction haben Strafverteidiger keinen Zugriff auf die Unterlagen und können nicht einmal den im Polizeigewahrsam befindlichen Beschuldigten kontaktieren. Erst nach 20 Stunden Polizeigewahrsam hat der Beschuldigte Anspruch darauf, sich 10 Minuten lang von einem Anwalt beraten zu lassen.

36.     Während des Verfahrens – bei dem zu den Berufsrichtern auch Schöffen oder Geschworene hinzukommen können, deren Aufgabe sich nicht auf Entscheidungen in Tatfragen beschränkt – spielen die Richter eine aktive Rolle, wenn es um die Klärung des Tatverlaufs geht, doch auch die Verteidigung und die Staatsanwaltschaft können Zeugen befragen. Die Verteidigung erhält stets als letzte Gehör. [25]

37.     Berufsrichter (juges oder magistrats du siège) und Staatsanwälte (procureurs oder magistrats debout/du parquet) gehören einer gemeinsamen Berufsgruppe (magistrats) an, deren Mitglieder die gleiche Ausbildung erhalten haben (an der Ecole Nationale de la Magistrature in Bordeaux) und im Zuge ihrer Laufbahn von der einen Untergruppe in die jeweils andere wechseln können (und dies oft auch tun). So hatten die meisten leitenden magistrats, denen ich bei meinem Besuch in Paris begegnete, als juges d’instruction begonnen, in denen traditionsgemäß eine gewisse Elite unter den magistrats gesehen wird [26], und dann mehrfach zwischen den Funktionen des Richters, Staatsanwalts oder Ministerialbeamten gewechselt.

38.     Rein rechtlich wie in der Praxis genießen Richter (auch die juges d’instruction) ein hohes Maß an Unabhängigkeit, während Staatsanwälte in eine klare Hierarchie eingebunden sind, an deren Spitze der Justizminister (Garde des Sceaux) steht. Die Strafprozessordnung [27] und das Statut de la Magistrature [28] bieten andererseits auch bestimmte Garantien für die Unabhängigkeit der Staatsanwälte. Insbesondere werden die Disziplinarbefugnisse des Ministers durch die zwingend vorgeschriebene Einschaltung des Conseil Supérieur de la Magistrature, des französischen Justizrats, eingeschränkt, und der Minister kann nur allgemeine Weisungen erteilen oder, in Einzelfällen, die Fortführung einer Ermittlung und die Befassung des zuständigen Gerichts anordnen, aber nicht anweisen, dies zu unterlassen. Schließlich darf selbst der am niedrigsten gestellte Staatsanwalt, während schriftliche Erklärungen von Staatsanwälten den Weisungen ihrer jeweiligen Vorgesetzten entsprechen müssen, sich vor Gericht frei äußern [29], wozu auch die Schlussanträge gehören, in denen das Gericht um eine bestimmte Sanktion (réquisitoire) gebeten wird, damit der Staatsanwalt die Möglichkeit erhält, die konkreten Ergebnisse des Gerichts­verfahrens angemessen zu berücksichtigen.

39.     Die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit des Gerichtswesens scheinen in der französischen politischen Kultur nach der Verfassung von 1958 nicht unbedingt absoute Geltung zu besitzen, da dieses Gesetzeswerk im Anschluss an das so empfundene Chaos der von einem in sich zerrissenen Parlament bestimmten IV. Republik bewusst die Rolle des Präsidenten der Republik stärkt. Mehrere meiner französischen Gesprächspartner machten mich darauf aufmerksam, dass die Verfassung zwar von den Befugnissen (pouvoirs) des Präsidenten, der Regierung [30] und des Parlaments [31] spricht, bei der Bezugnahme auf die Vorrechte der Judikative den Begriff „Autorität“ (autorité) verwendet. [32] Hierzu heißt es, diese Abweichung von der auf Montesquieu zurückgehenden Terminologie (der, wie mir gesagt wurde, im Ausland weitaus populärer ist als in Frankreich) sei nicht unbedingt harmlos.

40.          Mein Besuch im Januar 2009 in Paris erfolgte nur wenige Tage, nachdem Präsident Sarkozy eine möglicherweise weitreichende Reform des Strafjustizsystems angekündigt hatte: den Vorschlag der Abschaffung des juge d’instruction, dessen Aufgaben der Staatsanwaltschaft übertragen werden sollten. Dieser Vorschlag wird als Gipfelpunkt eines Prozesses betrachtet, bei dem die Verbände der französischen Richter und Staatsanwälte den Eindruck haben, dass die Regierung allein deshalb die Kontrolle über das Justizsystem übernimmt, weil die „kleinen Richter“ daran gehindert werden sollen, gegen führende Politiker oder Geschäftsleute wegen behaupteter Korruption oder anderer finanzieller Vergehen eine Strafverfolgung einzuleiten (oder ihnen, wie einige Politiker es sehen, nachzustellen). [33] Eine weitere von der derzeitigen Regierung angekündigte Reform, die „Entkriminalisierung“ bestimmter Geschäftspraktiken, welche in den Bereichen Gesellschaftsrecht und Finanzen zurzeit als strafrechtlich relevant eingestuft werden [34], wird als Ergänzung dieser Strategie auf materiell-rechtlichem Gebiet scharf kritisiert.


41.         
Die Beziehungen zwischen der derzeitigen politischen Führung und den Gerichten scheinen recht frostig zu sein. Vertreter der Richterschaft zitierten in meine Gegenwart eine öffentliche Erklärung der Justizministerin, in der diese sich als „Vorgesetzte“ (chef) aller Staatsanwälte bezeichnete und angab, die Gerichte verkündeten ihre Urteile „aufgrund der obersten Autorität des vom Volk gewählten Staatspräsidenten“ [35]. Die Vertreter der Verbände der Richter und Staatswälte, mit denen ich sprach, waren besonders enttäuscht über das Ausbleiben eines öffentlichen Aufschreis angesichts dieser Erklärungen. Ihnen ist schmerzlich bewusst, dass sie eine geringere Unterstützung aus der Bevölkerung erfahren als zum Beispiel ihre italienischen Kollegen. [36] Zwar werden italienische Richter und Staatsanwälte ebenfalls ständig von der gegenwärtigen politischen Führung Italiens, auch von Ministerpräsident Berlusconi selbst, kritisiert, doch seit ihrem erfolgreichen Kampf gegen die organisierte Kriminalität und die Korruption (die Kampagne „mani pulite“) werden sie von der Bevölkerung in hohem Maße unterstützt. Selbst wenn französische Richter ebenfalls in Antikorruptionsfällen in höchsten Kreisen spektakuläre Erfolge verbuchen konnten [37], hat ihre Beliebtheit doch stark darunter gelitten, dass ein junger juge d’instruction den Fall Outreau allem Anschein nach falsch anpackte. In diesem Fall kamen zahlreiche Bewohner der kleinen Stadt, denen sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wurde, in Untersuchungshaft, wurden schließlich aber freigesprochen, nachdem sie bis zu drei Jahren im Gefängnis verbracht hatten. [38] Französische Richter sind verärgert, dass die politische Führung die Gerichte bei den benötigten Mitteln aushungert, zum anderen aber schnell bei der Hand ist, um sie bei jeglichen so empfundenen oder tatsächlichen Unzulänglichkeiten oder Fehlschlägen in scharfer Form öffentlich zu kritisieren, obwohl diese durchaus gerade auf die fehlenden Ressourcen zurückgehen oder dadurch verschlimmert sein könnten eine Situation, die das Gerichtswesen weiter destabilisieren könnte.

42.          Was die verfügbaren Mittel angeht, ist der Kontrast zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich in der Tat auffällig: 2006 war das Budget für Gerichtskostenhilfe allein in England und Wales [39] fast so hoch wie das Gesamtbudget für das Gerichtswesen von ganz Frankreich (einschließlich aller Gerichte, der Staatsanwaltschaften und der Gerichtskostenhilfe)! [40], [41] Beamte des Justizministeriums teilten mir mit, die den Gerichten zur Verfügung stehenden Mittel seien in den letzten Jahren erhöht worden und es seien 1 500 zusätzliche Richter und Staatsanwälte eingestellt worden, doch die meisten meiner Gesprächspartner bestanden darauf, dass noch viel getan werden müsse.

43.          Die Vertreter der Richterschaft sind überzeugt, dass der Fall Outreau, für den sogar ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde, lediglich eine bequeme Ausrede für die politische Klasse darstellt, um sich der Institution des allzu unabhängigen juge d’instruction endlich zu entledigen – was, wie sie erklären, die Vorgänger des derzeitigen Präsidenten schon lange gerne getan, aber nie gewagt hätten. Interessanterweise schreckte der parlamentarische Untersuchungsausschuss über den Fall Outreau knapp davor zurück, die Abschaffung des juge d’instruction zu empfehlen und trat stattdessen für die Fortsetzung eines Reformprozesses ein, der schon früher begonnen hatte. In Wirklichkeit hat der juge d’instruction nicht mehr die Befugnis, einen Beschuldigten in Untersuchungshaft zu nehmen, denn dies ist jetzt die Aufgabe des juge des libertés et de la détention [42], der durch eine Reform im Jahre 2000 geschaffen wurde [43]. Sie erklären außerdem, die Frage der „Alleinstellung“ des juge d’instruction sei schon mit einer Reform angegangen worden, die Anfang 2010 in Kraft treten soll und wonach in besonders arbeitsintensiven und komplexen Fällen bis zu drei juges d’instruction benannt werden können, die dann als Team zusammenarbeiten sollen. Die Vertreter der Richterschaft vertreten dazu die Ansicht, die Auswirkungen dieser Maßnahme sollten zumindest während einiger Zeit geprüft werden, bevor die Institution des juge d’instruction ganz abgeschafft wird.

44.          Die vorgeschlagene Übertragung der Ermittlungsbefugnisse des juge d’instruction an die Staatsanwaltschaft wird nicht nur von den gewählten Vertretern der Richter und Staatsanwälte [44], sondern auch von niedergelassenen Anwälten kritisiert [45], die befürchten, ihr Zugang zu den Akten werde weiter eingeschränkt. Meine Gesprächspartner im Justizministerium gaben an, ihnen sei bewusst, dass Anwälte in der Vorphase des Verfahrens nur dann Aktenzugang erhielten und bei Verhören dabei sein dürften, wenn das Verfahren von dem juge d’instruction durchgeführt werde. Sie konnten jedoch nicht meine Frage beantworten, ob der Zugang in allen Strafverfahren oder nur in der kleinen Zahl von Fällen erweitert werden würde, die zuvor der juge d’instruction bearbeitet hatte und in welchem Maße eine Erweiterung stattfinden werde. Meinen Gesprächspartnern im Justizministerium war auch klar, dass zusätzliche Mittel für Gerichtskostenhilfe erforderlich sein würden, da die Reform zu einem stärker kontradiktorisch geprägten Verfahren führen würde und die Anwälte der Verteidigung selbst mehr Ermittlungen würden anstellen müssen, die zurzeit von Ermittlungsrichtern erledigt werden. Ihnen war jedoch nicht bewusst, welche gewaltigen Beträge in einem kontradiktorischen System wie in England und Wales für Prozesskostenhilfe erforderlich sind. [46]

45.          Am 6. März 2009, nach meinem Besuch in Paris, veröffentlichte die Léger-Kommission ihren Zwischenbericht über die Vorbereitungsphase des Strafverfahrens. Die Kommissionsmehrheit unterstützt und erläutert zusätzlich den Vorschlag des Präsidenten, den juge d’instruction in einen juge de l’enquête et des libertés umzuwandeln, der ausschließlich richterliche Funktionen wahrnehmen würde, da die Ermittlungsaufgaben von der Staatsanwaltschaft übernommen werden würden. Die Kommissionsmehrheit ist gegen den Vorschlag, die Unabhängigkeit der Staatsanwälte auszuweiten, zum Beispiel durch Angleichung ihres Ernennungsverfahrens an das für Richter und spricht sich auch nicht für die Einführung des „Legalitätsprinzips“ aus, durch die der Ermessensspielraum der Staatsanwaltschaft in der Frage, ob ein Strafttäter verfolgt werden soll oder nicht, beseitigt oder eingeschränkt werden würde. Die Kommissionsmehrheit sieht den künftigen juge de l’enquête et des libertés als ausreichendes Gegengewicht gegen die ausgeweiteten Befugnisse der Staatsanwaltschaft an. Darüber hinaus unterbreitet die Kommission recht weit reichende Vorschläge für die Erweiterung der Rechte der Verteidigung, jedoch nur bei Personen, die schwererer und komplexerer Straftaten verdächtigt werden („régime renforcé“ mit ausgeprägten kontradiktorischen Elementen). In den übrigen Fällen („régime restreint“) bleibt das Verfahren im Wesentlichen in Fällen ohne Benennung eines juge d’instruction gegenüber dem derzeitigen System unverändert [47].

46.          Die drei repräsentativen Verbände von Richtern und Staatsanwälten (USM, SM und AFMI) reagierten auf den Zwischenbericht der Léger-Kommission in einem gemeinsamen Kommuniqué vom 9. März 2009. [48] Sie waren der Ansicht, die Kommission, die sich ihnen zufolge aus dem Präsidenten nahestehenden Personen zusammensetze, deren Vorstellungen schon im vorhinein gut bekannt seien, sei, was niemanden überrasche, der Weisung des Präsidenten gefolgt, den juge d’instruction abzuschaffen, ohne andererseits die Unabhängigkeit der Einrichtung zu gewährleisten, die an seiner Stelle die Ermittlungen übernehmen wird und ohne angemessene Rechte und Mittel für die Verteidigung vorzusehen, deren vorgeschlagene Stärkung zahlreichen Ausnahmen unterliege. Die Vertreter der Richterschaft sehen in dem vorgeschlagenen juge de l’enquête et des libertés einen „Alibirichter“ ohne klare Rechtsstellung und ohne wirkliche Befugnisse, um die Ermittlungen anzutreiben und zu lenken. Dementsprechend verlangen sie die Auflösung der Léger-Kommission, die sich ihnen zufolge als parteilich und inkompetent erwiesen hat.

47.          Der Conseil National des Barreaux (Nationaler Rat der Anwaltskammern) verurteilt in einer am 14. März 2009 auf seiner Generalversammlung einstimmig angenommenen Entschließung ebenfalls mit Nachdruck den Zwischenbericht der Léger-Kommission, vor allem in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.

48.          Am 21. März 2009 begannen die Etats Généraux de la Justice Pénale [49] unter dem Vorsitz des ehemaligen Justizministers Robert Badinter in ganz Frankreich eine Reihe von Anhörungen, um so zu den laufenden Diskussionen über die Reform des Strafrechtssystems beizutragen. In dem auf der Eröffnungsveranstaltung beschlossenen Nationalen Appell werden die „Angriffe auf das Prinzip der Gewaltenteilung (verurteilt), bei denen die angekündigte Übertragung aller Ermittlungsaufgaben auf eine hierarchisch eingebundene und von der Exekutive abhängige Strafverfolgungsbehörde eine der jüngsten Erscheinungsformen ist“. Der Appell unterstreicht auch die Notwendigkeit der Unabhängigkeit der mit den Ermittlungen betrauten Behörde.

49.          Diese heftigen Gegenreaktionen seitens der relevanten und repräsentativen Berufsverbände machen deutlich, dass die Léger-Kommission noch einige Arbeit vor sich hat, da es sicherlich unklug wäre, die Reformvorschläge denen einfach aufzuzwingen, die sie in ihrer täglichen Arbeit anzuwenden haben.

50.          Ein weiterer Streitpunkt zwischen der Regierung und den Gerichten ist die Reform des Conseil Supérieur de la Magistrature (CSM), der die Aufgabe hat, über Disziplinarmaßnahmen gegen Richter und Staatsanwälte zu entscheiden und Stellungnahmen zur Ernennung von Richtern abzugeben. Während der Minister im Falle von Richtern im Allgemeinen nicht von der Stellungnahme des CSM abweichen kann (Verfahren des avis conforme), hat er diese Möglichkeit bei der Ernennung von Staatsanwälten (Verfahren des avis simple). Uns wurde gesagt, unter der derzeitigen Regierung habe die Praxis, die Stellungnahme des CSM zu ignorieren (passer outre) so deutlich zugenommen, dass schlichtweg die Rolle des CSM in Frage gestellt werde. [50] Mein Gesprächspartner beim CSM erläuterte, eine weitere Reform, die 2010 in Kraft treten solle [51], werde das Machtgleichgewicht in diesem Gremium nachhaltig verändern, da die Vertreter der Richter und Staatsanwälte in der Minderheit sein würden. Bisher stehen sechs Richter und Staatsanwälte [52] vier Laienvertretern gegenüber, die vom Staatspräsidenten, den Präsidenten der beiden Häuser des Parlaments und dem Staatsrat (Conseil d’Etat) ernannt werden, wobei der Präsident mit dem Justizminister als Stellvertreter den Vorsitz führt. Nach dem Inkrafttreten der Reform werden der Präsident, die beiden Parlamentspräsidenten und der Staatsrat jeweils zwei Vertreter ernennen, während der CSM unter dem Vorsitz des Ersten Präsidenten des Kassationshofs oder des Generalstaatsanwalts desselben Gerichtshofs vertreten sein wird, sodass anstelle des früheren Verhältnisses von sechs zu fünf (unter Einbeziehung der Vorsitzenden) nun sieben Richter oder Staatsanwälte und acht „politische“ Vertreter einander gegenüberstehen werden. Diese Reform, nach der auch einzelne Bürger den CSM wegen behaupteter Disziplinarverstöße von Richtern und Staatsanwälten werden befassen können, soll den Vorwurf des „Standesdenkens“ gegen Richter und Staatsanwälte abwenden, die dem Anschein nach unter einander über Beförderungen und Disziplinarmaßnahmen entscheiden. Die Verbände der Richter und Staatsanwälte wie auch der CSM sind gegen diese Reform [53] und weisen darauf hin, dass die richterliche Unabhängigkeit bedroht ist, wenn Kandidaten der jeweiligen politischen Mehrheit über die Laufbahn von Richtern und Staatsanwälten und mögliche Disziplinarmaßnahmen gegen sie entscheiden. Sie zitieren außerdem „europäische Standards“, die zumindest eine Parität zwischen Richtern und Staatsanwälten auf der einen und „politischen“ Nominierten auf ander anderen Seite erfordern. [54] Schließlich weisen sie darauf hin, dass die ordentlichen Gerichte (juridictions judiciaires) schlechter behandelt werden als die Verwaltungsgerichte und die Rechnungshöfe, in deren übergeordneten Gremien die Richter in der Mehrheit sind. [55]

51.          Die Venedig-Kommission, die von der Versammlung auf meinen Vorschlag um eine Stellungnahme gebeten wurde, vertritt folgende Auffassung:

Zusammenfassend ist die Venedig-Kommission der Ansicht, dass es zumindest in neuen Demokratien eine unverzichtbare Garantie der Unabhängigkeit des Gerichtswesens darstellt, wenn  ein unabhängiger Justizrat entscheidenden Einfluss auf Beschlüsse nimmt, die über die Ernennung und die Laufbahn von Richtern entscheiden. Angesichts der reichen europäischen Rechtskultur, die wertvoll und schutzwürdig ist, gibt es kein auf alle Länder anwendbares Modell. Bei aller Achtung vor der Vielfalt der Rechtssysteme empfiehlt die Venedig-Kommission jedoch auch, dass die alten Demokratien, die dies noch nicht getan haben, an die Errichtung eines unabhängigen Justizrats oder eines ähnlichen Gremiums denken sollten. In jedem Fall sollte der Rat pluralistisch zusammengesetzt sein und zu einem großen Teil, wenn nicht mehrheitlich, von ihren Amtskollegen gewählte Richter umfassen. [56]

52.          Meine eigenen Vorstellungen im Hinblick auf die verschiedenen Reformvorschläge konzentrieren sich auf die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit des Gerichtswesens sowohl faktisch als auch dem äußeren Anschein nach zu gewährleisten. Wird in Frankreich beschlossen, den Untersuchungsrichter abzuschaffen und diese Aufgaben der Staatsanwaltschaft zu übertragen, sollten einige Grundanforderungen erfüllt werden, um jeden Eindruck zu vermeiden, in Wirklichkeit gehe es um den Schutz der politischen Klasse vor gerichtlicher Überprüfung. Zu diesen Anforderungen würden insbesondere eine deutlich größere Eigenständigkeit der Staatsanwaltschaft in der Praxis gehören, als sie zurzeit gegeben zu sein scheint. [57] Sehr wichtig ist außerdem die Ausweitung des Zugangs des Verteidigers zu den Unterlagen der Staatsanwaltschaft und der Einvernahme von Verdächtigen oder Zeugen auf das gegenwärtig vor dem Untersuchungsrichter gegebene Maß ganz generell, nicht nur bei der kleinen Zahl von zurzeit von Untersuchungsrichtern bearbeiteten Unterlagen. Der verstärkte Rückgriff auf ein kontradiktorisches Verfahren würde außerdem eine beträchtliche Aufstockung der Mittel für Prozesskostenhilfe erfordern sonst bestünde die Gefahr des Entstehens eines strafrechtlichen Zweiklassensystems, in dem nur für die Waffengleichheit bestehen würde, dies es sich leisten können. Was schließlich den CSM angeht, trete ich dafür ein, zumindest die Parität zwischen Richtern und Staatsanwälten einerseits und benannten Laien andererseits aufrechtzuerhalten. Was die benannten Laien anbelangt, wäre es wohl vernünftig, wenn nicht alle von ihnen von der politischen Mehrheit aufgestellt würden, wie es gegenwärtig in Frankreich der Fall ist, sondern auch die politischen Kräfte der Opposition vertreten wären.

iii.      Das deutsche Modell

53.          Die Vorermittlung im Vorfeld des Prozesses werden nach dem deutschen System unter der Aufsicht der Staatsanwaltschaft von der Polizei vorgenommen. Die Polizeibehörden sind verpflichtet, nach Schuld- wie Unschuldsbeweisen zu suchen, aber auch die Verteidigung spielt bei dem Verfahren eine aktive Rolle. Anders als zurzeit in Frankreich haben Verteidiger schon vor dem Verfahren uneingeschränkten Zugang zu dem Verdächtigten und den Unterlagen der Staatsanwaltschaft. Die „Aufsicht“ über die Polizei durch den Staatsanwalt soll sicherstellen, dass die der Polizei gezogenen gesetzlichen Grenzen eingehalten werden. Bestimmte Ermittlungsmaßnahmen, die im Hinblick auf die Menschenrechte besonders heikel sind (insbesondere Festnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen usw.) müssen von einem so genannten Ermittlungsrichter (ein Konzept, das dem des juge de l’instruction nahekommt, der nach den oben erörterten Reformvorschlägen an die Stelle des französischen juge d’instruction treten könnte) genehmigt werden [58].

54.          Deutsche Staatsanwälte sind insofern nicht „unabhängig“, als sie Teil einer Verwaltungshierarchie sind, die dem Justizminister ihres Landes unterstellt ist. Die Justizminister haben die Möglichkeit, im Rahmen ihres Aufsichtsrechts über die Strafverfolgung nicht nur allgemeine Weisungen zu erteilen, um für Gleichbehandlung durch die Justizverwaltung zu sorgen, sondern auch Weisungen auszusprechen, die sich auf einzelne Fälle beziehen. Diese gesetzlich durchaus vorgesehene Möglichkeit [59] wird in der Praxis nur selten in Anspruch genommen, doch es gibt sie. Ministeranweisungen sind durch das Erfordernis eingeschränkt, dass sie nicht gegen das Gesetz und in keinem Fall gegen das „Legalitätsprinzip“ verstoßen dürfen, [60] nach dem grundsätzlich alle Straftaten, von denen die Behörden Kenntnis erhalten, Gegenstand von Ermittlungen und einer Strafverfolgung sein müssen. Das Legalitätsprinzip wird im Übrigen durch eine Reihe von Ausnahmen abgemildert, die bei einer Reihe aufeinanderfolgender Gesetzesreformen festgelegt wurden und bei denen im Hinblick auf triviale oder andere Taten, bei denen das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung begrenzt ist, eine starke Dosis des „Opportunitätsprinzips der Strafverfolgung“ eingeführt wurde. Ein Polizeibeamter, ein Staatsanwalt oder eine andere Amtsperson, die in den normalen Gang der Justiz eingreift, setzt sich jedoch schwerwiegenden strafrechtlichen Sanktionen aus. [61] Die Frage der Weisungen an die Staatsanwaltschaft zu Einzelfällen wird in Deutschland heftig diskutiert. Die Verteidiger des status quo argumentieren, der Grundsatz der demokratischen Kontrolle erfordere die uneingeschränkte Verantwiortung des Ministeriums vor dem Parlament für alle Handlungen oder Unterlassungen der Strafverfolgungsorgane. [62] Reformbefürworter, vor allem der Deutsche Richterbund, meinen dazu, allein schon die Möglichkeit von Weisungen in Einzelfällen, wie selten sie in der Praxis auch vorkommen mögen [63], führe zu der öffentlichen Wahrnehmung, Politiker manipulierten den justiziellen Prozess für ihre eigenen Zwecke und untergrüben das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Objektivität und Unabhängigkeit des Strafrechtssystems. [64] Meine Gesprächspartner in Berlin meinten dazu, es liege sogar im wohlverstandenen Interesse der Minister selbst, nicht über das Instrument von Einzelfallweisungen zu verfügen: Je nach Blickwinkel des Betrachters könnten Minister zu Zielscheiben der Kritik für die Nutzung dieses Instruments werden, jedoch für die Nichtnutzung. Auch allein schon die Möglichkeit, dass zum Beispiel eine Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens gegen einen Politiker, dem geringfügige Zuwiderhandlunegn vorgeworfen wurden, auf einer solchen „politischen“ Weisung beruhen könnte, untergräbt die angestrebte Wirkung einer solchen Entscheidung die Rehabilitierung des Angeklagten.

55.          In der Verfahrensphase hat das Gericht selbst – dem auch Laien angehören können – die Pflicht, die Fakten zu ermitteln. Das Gericht. dessen Richter uneingeschränt unabhängig sind (einschließlich lebenslanger Anstellung und Unabsetzbarkeit) und denen Fälle nach zuvor festgelegten objektiven Kriterien (Geschäftsverteilungsplan) automatisch zugewiesen werden, kann Beweismaterialien ex officio anfordern und tut dies auch oft. Allerdings können sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung Anträge stellen, auch zur Vorführung von Zeugen. Das Gericht kann diese Anträge (Beweisanträge) nur aus einer begrenzten Zahl von Gründen zurückweisen. Die Verteidigung kann sich an dem Verfahren vor Gericht aktiv beteiligen, einschließlich der Teilnahme an der Auswahl der Sachverständigen und der Einvernahme der Zeugen. Das deutsche System könnte darum so gesehen werden, dass es von inquisitorischen Prämissen ausgeht [65] und sich auf die Ermittlung der materiell-rechtlichen Sachverhalte konzentriert, doch es wird stark durch kontradiktorische Elemente abgeschwächt, insbesondere eine ausgeprägte Rolle der Verteidigung schon zu Beginn des Verfahrens. Das spiegelt sich zum Teil auch in den für Prozesskostenhilfe verfügbaren Mitteln: Deutschland wendet deutlich mehr als Frankreich auf, das ein ein ausgesprochen inquisitorisches System besitzt, aber immer noch viel weniger als das Vereinigte Königreich mit seinem rein kontradiktorischen System. [66]

56.          Was die für diesen Bericht besonders interessanten Fragen angeht, liegt das deutsche System  deutlich hinter dem britischen und dem französischen System zurück, da es keine unabhängige Einrichtung vorsieht, die die Ernennung, die Beförderung und Disziplinarmaßnahmen im Hinblick auf Mitarbeiter der Judikative regelt, wie dies zum Beispiel die Richerernennungskommission des Conseil Supérieur de la Magistrature tut. Die Richterräte und Präsidialräte, wie sie in den Richtergesetzen des Bundes und der Länder vorgesehen sind, spielen keine vergleichbare Rolle. Der Deutsche Richterbund, die repräsentativste Berufsvereinigung deutscher Richter und Staatsanwälte, setzt sich für die Einführung eines Systems der beruflichen  Selbstverwaltung ein nach dem Modell der Gerichtsräte, wie es sie in den meisten übrigen europäischen Staaten gibt. [67] Deutschland ist in dieser Hinsicht ein „Außenseiter“. Im europäischen Netzwerk der Vorsitzenden hoher Gerichtsräte hat Deutschland lediglich Beobachterstatus ohne Stimmrecht und wurde bezeichnenderweise bis vor kurzem von einem Beamten des Bundesjustizministeriums vertreten. [68] Der Deutsche Richterbund ist der Ansicht, dass die unzureichende justizielle Selbstverwaltung in Deutschland durchaus einer der Gründe dafür sein könnte, dass das Gerichtswesen im Vergleich mit anderen europäischen Staaten so unterfinanziert ist – was neuere Vergleichsuntersuchungen auf europäischer Ebene tendenziell unterstreichen. Selbst eine so „prosaische“ Frage wie die der Gehälter von Richtern und Staatsanwälten wird betrachtet, als wirkten sich „unangemessene äußere Einflüsse“ auf die Unabhängigkeit des Gerichtswesens aus.

57.          Ich möchte darauf hinweisen, dass die potenziellen Auswirkungen von Themen wie der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von ministeriellen Weisungen und das Fehlen einer justiziellen Selbstverwaltung im Hinblick auf Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen durch die föderale Struktur des deutschen Gerichtswesens abgeschwächt werden. Die Gerichte erster und zweiter Instanz sowie die mit ihnen verbundenen Staatsanwaltschaften unterstehen den einzelnen Ländern, während die Bundesregierung für die Bundesgerichte (einschließlich des Bundesgerichtshofs des Obersten Gerichtshofs für Zivil- und Strafsachen und des Bundesverfassungsgerichts) zuständig ist. Die Gefahr, dass eine politische Strömung die Gerichte unter ihre Kontrolle bringt und dies dazu missbraucht, ihre Machtposition zu festigen und der Opposition das Wasser abzugraben, ist nicht so groß wie in Zentralstaaten mit ähnlichen Rechtsvorschriften. Die politische Verantwortung für die Judikative und der potenzielle Einfluss auf diese verteilt sich auf die Justizminister oder -senatoren der 16 Länder und den Bundesjustizminister. Die Länder haben unterschiedliche Traditionen und Rechtsvorschriften für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten und weisen abweichende und sich häufig ändernde politische Mehrheiten auf. Einige haben bereits fortschrittliche Mechanismen im Sinne einer justiziellen Selbstverwaltung eingeführt und die Befugnisse der Ministerialverwaltung in Personalfragen eingeschränkt. Andere haben dies schon beschlossen, während andere noch in einer frühen Überlegungsphase stehen. Die derzeitige Bundesjustizministerin, Frau Zypries, erklärte im Mai 2009 auf eine Tagung öffentlich, [69] sie sei von der Wünschbarkeit einer justiziellen Selbstverwaltung entsprechend „europäischen Standards“ noch nicht überzeugt. Sie vertritt die Ansicht, Deutschland solle gerichtliche Standards im gerichtlichen Bereich eher exportieren als importieren, da sein Gerichtssystem im Hinblick auf Qualität, Effizienz und Integrität einen hervorragenden Ruf genieße. Davon abgsehen erklärte sie sich bereit, auf die Argumente der Reformbefürworter einzugehen.

 

58.          Meine eigenen Auffassungen liegen nach Treffen mit leitenden Vertretern der Judikative, der Bundesrechtsanwaltskammer und dem Bundesjustizministerium [70] im Grunde recht dicht bei denen des Deutschen Richterbunds.

59.          Was die justizielle Selbstverwaltung anbelangt, nehme ich die Argumente ernst, wonach eine solche Reform eine „Closed shop“-Mentalität und eine korporatistische Haltung begünstigen könnte, die das Gerichtswesen von der breiten Gesellschaft abschneiden und zu einem Verlust bei der demokratischen Rechenschaftslegung führen könnte. Diesen Gefahren lässt sich jedoch mit dem Modell eines „Gerichtsrates“ entgegenwirken, das die Vertretung aller Schichten der Gesellschaft sicherstellt, wie es im Vereinigten Königreich mit Erfolg verwirklicht worden zu sein scheint. Anders als Ministerin Zypries  nehme ich auch das Argument ernst, dass die justizielle Selbstverwaltung europäischen Standards genügt. In bin zwar insofern ihrer Meinung, als die Unabhängigkeit der Gerichte in Deutschland recht gut gewahrt wird, doch müssen die gesetzlichen Strukturen so aussehen, dass sie Missbräuchen auch dann vorbeugen können, wenn die entsprechenden Instrumente einmal mehr in die „falschen“ Hände fallen. Die so genannten „alten Demokratien“ sollten davon absehen, „neuen Demokratien“ Ratschläge zu erteilen, die sie selbst nicht umzusetzen bereit sind. Zweierlei Maßstäbe dieser Art sind nicht hinnehmbar [71] und untergraben die Bemühungen des Europarats, die Unabhängigkeit des Gerichtswesens überall zu stärken. Ich fühle mich deshalb von der Haltung des Vereinigten Königreichs angezogen, das vor kurzem die Judicial Appointments Commission [72] eingesetzt hat; nicht so sehr, weil die Unabhängigkeit der britischen Gerichte in Frage gestanden hätte, sondern um zu vermeiden, einen schlechten Präzedenzfall vorzugeben, auf den auch andere zurückgreifen könnten.

60.          Was das Recht angeht, Staatsanwälten Einzelanweisungen zu erteilen, unterstütze ich uneingeschränkt den Vorschlag, diese Möglichkeit abzuschaffen. Nach meiner eigenen Erfahrung als Ministerin kann ich nur bestätigen, dass dieses Instrument ein zweischneidiges Schwert ist, das ebensoviel Schaden anrichten wie Gutes bewirken kann, sowohl bei denen, die sich seiner bedienen als auch denen, die auf der anderen Seite stehen. Das gilt insbesondere angesichts der weit verbreiteten und in jüngster Zeit zum Teil „legalisierten“ Praxis von „Abmachungen“ zwischen der Staatsanwaltschaft, dem Gericht und der Verteidigung. [73] Wenn die Staatsanwaltschaft nämlich „politischen“ Weisungen zu folgen hat, kann das gesamte Verfahren leicht zu einer Farce werden.

61.          Im Hinblick auf die Frage der Gehälter stimme ich den Vertretern der Richter und Staatsanwälte zu, dass eine angemessene Bezahlung einen notwendigen Bestandteil des Schutzes vor unzulässigen äußeren Einflüssen darstellt. Sinken die Vergütungen zu tief ab, droht die Gefahr der Korruption einer Krankheit, die zu heilen weitaus schwieriger ist als sie zu verhüten. Außerdem könnten angehende Richter und Staatsanwälte sich ohne anständige Bezahlung auf allen Ebenen des Gerichtswesens unter dem wirtschaftlichen Zwang fühlen, sich durch Gefälligkeiten gegenüber den Machthabern für Beförderungen ins Gespräch zu bringen.

62.          Eine abschließende Empfehlung, die sich aus meinen Gesprächen in Berlin ergibt, geht in die Richtung, dass die Aufsichtsfunktion von Richtern im Hinblick auf Ermittlungsmaßnahmen, die in Grundrechte eingreifen (so z.B. Untersuchungshaft, die Genehmigung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen, Abhörmaßnahmen usw.) verstärkt werden muss, indem den Gerichten zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, um zu vermeiden, dass Richter Anträge der Staatsanwaltschaft aus Zeitmangel einfach „durchwinken“. Das gilt vor allem im Rahmen der Terrorismusbekämpfung, die zu größeren Befugnissen und Ressourcen der (de lege lata weniger unabhänigen) Staatsanwälte geführt hat, ohne dass die Überwachungsmöglichkeiten der Richter in vergleichbarem Maße ausgeweitet worden wären.

iv.      Zurechnung von Staaten zu den ersten drei Modellen

63.          Nach einer förmlichen Analyse der verschiedenen Strafrechtssysteme in den Mitgliedstaaten könnte es naheliegend erscheinen, dass alle in eine der drei oben erwähnten drei Kategorien fallen, auch wenn jedes natürlich besondere Unterscheidungsmerkmale aufweist. Österreich, Dänemark, Finnland, Italien, Island, Liechtenstein, Norwegen, Portugal und Schweden könnten am ehesten dem deutschen Modell zugerechnet werden, während Andorra, Belgien, Griechenland, Luxemburg, die Niederlande, Monaco, San Marino, Spanien, die Schweiz und die Türkei eher dem französischen Modell zu entsprechen scheinen.  Darüber hinaus und vorbehaltlich aller obigen Anmerkungen lassen sich Malta, Nordirland, Schottland und Zypern dem englischen Modell zuschlagen. [74] Unter den Staaten Mittel- und Osteuropas folgen die Strafrechtssysteme Albaniens, von Bosnien und Herzegowina, Bulgariens, Estlands, Lettlands, Litauens, Montenegros, Polens, Rumäniens, Serbiens, Sloweniens, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarns eher dem deutschen Modell, während Kroatien – mit der Einschaltung eines Ermittlungsrichters – wohl auf dem französischen Weg zu sehen ist. [75]

v.       Immer noch ein System sui generis: die Russische Föderation

          a.    Geschichtliche Wurzeln

64.          Die Russische Föderation scheint eine eigenständige vierte Kategorie eines Strafrechtssystems zu verkörpern, das auf unterschiedliche Weise von der Tradition beeinflusst worden ist, die sich während des Bestehens der Sowjetunion herausbildete. Diese Analyse scheint im Falle von Ländern wie Armenien, Aserbaidschan, Georgien, der Republik Moldau, der Russischen Föderation und der Ukraine angemessen zu sein, nicht jedoch unbedingt bei den Mitgliedstaaten, die einstmals kommunistisch waren, aber nach dem Zweiten Weltkrieg nicht oder nur zum Teil als Bestandteile der überkommenen und erlittenen Tradition der Sowjetunion angehörten oder wieder ins Leben gerufen wurden oder auch vor der kommunistischen Epoche oder erst seitdem Veränderungen erfahren haben, die immer noch Teil der Praxis sind.

65.          Zu Sowjetzeiten war die „prokuratura“ (Staatsanwaltshaft) die vorherrschende Kraft im Strafrechts­system, während die Gerichte eine untergeordnete und fast nur bestätigende Rolle spielten und die Anwälte der Verteidigung praktisch irrelevant waren. [76] Auch wenn in den ehemaligen Sowjetrepubliken beträchtliche Anstrengungen unternommen worden sind, um zum einen das Ansehen der Gerichte im Strafverfahren zu erhöhen und zum anderen sicherzustellen, dass Verteidiger sowohl bei den Vorermittlungen als auch in der Prozessphase teilnehmen können, übt der Staatsanwalt weiterhin einen sehr starken Einfluss auf den Prozess aus. Dies liegt nicht nur daran, dass (trotz der formellen Änderung der Zuständigkeiten) viele der Mitarbeiter weiter in denselben Organen des Strafrechtssystems tätig sind, aber auch die Staatsanwaltschaft in der Rechtsordnung generell einen gewaltigen Einfluss behalten hat [77], mit einer umfassenden Über­wachungs­funktion in Bezug auf viele Tätigkeiten selbst außerhalb des Justizwesens ein von dem Europarat wiederholt kritisierter Zustand.

66.          Während meines Besuchs in Moskau wollte ich Strukturfragen erörtern, wie z.B. die kürzliche Einsetzung des von der Generalstaatsanwaltschaft „abgespaltenen“ Ermittlungsausschusses sowie konkrete Beispiele der behaupteten unzureichenden Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden mit leitenden Vertretern dieser Stellen. Obwohl in der letzten Fassung meines offiziellen Besuchsprogramms, die mir in Moskau übergeben wurde, Begegnungen mit dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ermittlungsausschusses angesetzt waren, wurden diese anschließend kurzfristig gestrichen. Nach meiner Rückkehr aus Moskau richtete ich ein Schreiben an den Generalstaatsanwalt und den Vorsitzenden des Ermittlungsausschusses mit dem Angebot, zu einem anderen Zeitpunkt mit ihnen zusammenzutreffen und einer Liste von Frage, die sie ersatzweise auch schriftlich beantworten konnten. In der schriftlichen Erwiderung der Generalstaatsanwaltschaft (PGO) [78] wird die von der Verfassung und den Gesetzen der Russischen Föderation vorgesehene völlige Unabhängigkeit der PGO von jeglichen politischen, administrativen oder sonstigen Einmischungen unterstrichen. Alle Versuche, sich in die Arbeit der Staatsanwälte einzumischen, würden Anlass zu strafrechtlicher Haftung geben. Was die Beziehungen des PGO zu dem neu eingesetzten Ermittlungsausschuss angehe, könne von Konkurrenz keine Rede sein, da die jeweiligen Zuständigkeiten genau umrissen seien und bei Meinungsverschiedenheiten der Geneeralstaatsanalt das letzte Wort habe. Das war sehr aufschlussreich und führte zu einigen zusätzlichen Fragen, die ich in einem weiteren Brief stellte, der bisher noch nicht beantwortet wurde.

 

67.          Pawel Kraschenninikow, der Vorsitzende des Ausschusses der Staatsduma fü Zivil-, Straf-, Schieds- und Verfahrensrecht, mit dem ich in Moskau zu einer sehr konstruktiven Diskussion zusammentraf, behält sich sein Urteil über die praktischen Auswirkungen der Einsetzung des Ermittlungsausschusses noch vor.  Ein wenig Wettbewerb zwischen den beiden Stellen könne gesund sein, doch sei eine gute Zusammenarbeit zwischen ihnen für eine effiziente Vollstreckung der Gesetze von entscheidender Bedeutung. Er hielt es auch für zu früh, meine Frage zu beantworten, ob eine mögliche Schwächung der Stellung der Generalstaatsanwaltschaft den Schutz der Bürgerrechte im Strafrechtssystem verbessern könne. Herr Kraschenninikow war sich der größten Schwächen des russischen Strafjustizsystems bewusst, auch der Korruption in der Justiz, der Überfüllung der Gefängnisse und der allzu häufigen Inanspruchnahme der Untersuchungshaft anstelle alternativer Sicherungsmaßnahmen. [79]

68.          Herr Kraschenninikow unterstrich außerdem seine anhaltende Unterstützung wie auch die seines gesamten Ausschusses für einen von ihm mit aller Energie eingebrachten Gesetzentwurf, mit dem erreicht werden soll, dass die in Untersuchungshaft verbrachte Zeit angesichts der schwierigen Situation in U-Haft­anstalten und auch als Antwort auf die Kritik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte doppelt gezählt wird. Dieser Gesetzentwurf wurde, wie es heißt, auch von dem Präsidialamt, dem Obersten Gerichtshof und der Regierung der Russischen Föderation begrüßt. Unabhängige Experten sagten mir jedoch in Moskau, die Regierung habe dem Entwurf kürzlich ihre Unterstützung entzogen, weil er Michail Chodorkowski zugute kommen könnte. Sie sagten voraus, das Gesetz, das nur für zu weniger als 10 Jahren Haft verurteilte Strafgefangenen gelten wird [80], werde erst in Kraft treten dürfen, nachdem Chodorkowski in seinem zweiten Prozess schuldig gesprochen und vermutlich zu einer Haftstrafe von mehr als 10 Jahren verurteilt sein werde. [81] Herr Kraschenninikow bestätigte, dass der Gesetzentwurf noch einige bürokratische Hürden zu nehmen haben werde, was ein wenig dauern könne.

          b.    Druck auf Richter – Verurteilungsdruck

69.          In vielen Fällen scheint ein sehr starker Verurteilungsdruck zu herrschen, und anstelle eines Freispruchs entscheiden sich die Gerichte eher für eine Zurückverweisung zwecks weiterer Ermittlungen. In meinen Gesprächen Anfang April in Moskau sprach ich die Frage eines Verurteilungsdrucks an und bin zu der Ansicht gelangt, dass es einen solchen Druck gibt, auch als Faktor zur Beurteilung der „Effizienz und Effektivität“ von Richtern unter dem Blickwinkel ihrer Beförderung oder auch der Entfernung aus ihrem Amt. Ich traf mit einem früheren Richter, Herrn Melichow (Strafrichter am Bezirksgericht von Dogobomila bei Moskau), zusammen, der mir schlüssig und detailliert erklärte, wie er unter starken Druck gesetzt wurde, keine Anträge auf Untersuchungshaft abzulehnen [82] und „gelegentlich“ Freisprüche zu verkünden. [83] Nach vielfältiger Drangsalierung wurde er schließlich entlassen – aufgrund von Beschwerden des Präsidenten des Moskauer Stadtgerichts (nicht seines eigenen Gerichtspräsidenten). [84]

70.          S.A. Paschin, ein ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof und angesehener Rechtsexperte, der in der Präsidialverwaltung unter Präsident Boris Jelzin für die Justizreform zuständig war und mir bei meinem Besuch in Moskau scharfsinnige Analysen vortrug, wurde ebenfalls mehrfach als Richter entlassen und wiedereingesetzt. Herr Paschin glaubt, seine wiederholte Wiedereinsetzung sei dem Umstand geschuldet, dass der damalige russische staatliche Vertreter beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Behörden gewarnt hatte, eine Beschwerde von Herrn Paschin bei dem Gerichtshof könne durchaus Erfolg haben.

71.          In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass ich erneut mit Richterin Kudeschkina zusammentraf, [85] die nach ihrem vorläufigen Erfolg vor dem Straßburger Gerichtshof bester Dinge war. Sie erklärte, das Urteil des Gerichtshofs zu ihren Gunsten habe anderen stark angefochtenen Richtern große Hoffnung gegeben. Frau Kudeschkina begrüßte es auch, dass das Urteil an die Große Kammer verwiesen wurde, da dies dem Gerichtshof die Möglichkeit bieten würde, die Probleme der unzureichenden Unabhängigkeit russischer Richter und ihre immer striktere Überwachung durch die Gerichtspräsidenten noch eingehender anzugehen.

72.          Eine weitere ehemalige Richterin, mit der ich in Moskau zusammentraf, ist Frau Gratschowa. Sie war 19 Jahre lang als Richterin tätig gewesen und hatte stets ausgezeichnete berufliche Bewertungen erhalten, weshalb sie zur stellvertretenden Vorsitzenden ihres Gerichts (in der Stadt Koroljow in der Region Moskau) befördert werden sollte. Sie hatte eine lokale Wahl für ungültig erklärt, weil es mehrere Gesetzesverstößé gegeben hatte. Während der Verhandlung drohte ihr ein Anwalt, sie werde „große Probleme“ bekommen. Ein kurz danach neu ernannter Präsident ihres Gerichts begann dann, sie zu „belästigen“ und entzog die Unterstützung seines Vorgängers für Frau Gratschowas Beförderung. Er fing außerdem an, sie zusätzlich zu ihrem bestehenden Pensum an Zivilfällen mit Strafsachen (mit denen sie keine Erfahrung hatte) zu überlasten. Es kam zu Gesundheitsproblemen sowie einer konstruierten Klage des Anwalts, der sie bedroht hatte, wegen einer kleinen Vergütung, [86] die sie erhalten hatte, weil sie in ihrer Freizeit bei der Durchführung einer Wahl geholfen hatte. Sie hatte den Eindruck, dass das ihren Fall betreffende Verfahren im Berufungsgremium grobschlächtig manipuliert worden war und dass ihr Gerichtspräsident in einer öffentlichen Verhandlung erklärt hatte, man „sollte sie erschießen“. [87] Nachdem sie es abgelehnt hatte, ihre Stelle selbst zu kündigen (und so ihre Rentenansprüche zu wahren), wurde sie schließlich entlassen (unter Verlust ihrer Rentenansprüche). Nachdem sie mit allen internen Einsprüchen gegen die Entlassung unterlegen war, stellt der Europäische Gerichtshof ihre letzte Hoffnung dar. Inzwischen hatte der 2008 ernannte neue Präsident des Bezirksgerichts die Methoden des Präsidenten ihres früheren Gerichts scharf kritisiert.

73.          Eine weitere Verdeutlichung des schwach ausgeprägten Schutzes, den Richter in der Russischen Föderation genießen, ergibt sich aus dem Schicksal von Richter Wassili Petrowitsch, der 10 Jahre lang in Moskau am Buterski-Gericht gearbeitet hatte. Irina Kadyrowa, seine Ehefrau, die erklärte, sie sei Anwältin geworden, um ihren Mann zu retten, erzählte mir seine Geschichte in vielen Einzelheiten. Im Wesentlichen hatte der Richter das Pech, beschuldigt zu werden, an einem sehr publik gemachten Immobilienschwindel beteiligt gewesen zu sein, der mehrere Moskauer Richter betraf, als die Bekämpfung der Korruption im Gerichtswesen gerade höchste politische Priorität erhalten hatte. Kurz nachdem der Präsident des Moskauer Stadtgerichts [88] sich öffentlich die Lösung des Falls zugute gehalten und die beschuldigten Richter als Betrüger bezeichnet hatte,
wurde Wassili Petrowitsch nach einem überaus fragwürdigen achtjährigen Verfahren aufgrund sehr spärlicher Beweise [89] zu 12 Jahren Haft verurteilt. [90] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt auch hier die letzte Hoffnung dieses ehemaligen Richters und seiner jungen Familie dar, die bereits dreieinhalb Jahre lang unter der Inhaftierung des Richters unter harten Bedingungen zu leiden gehabt haben [91].

74.          Vor meiner Abreise nach Moskau wurden mir zwei weitere Fälle von Richtern mitgeteilt, die angeblich „Weisungen“ in beiden Fällen zu der Rechtssache ToAZ (Togliatti-Asot) erhalten hatten. Wie die Moscow Times meldete[92], machte Jelena Waljawina, die Erste stellvertretende Vorsitzende des Oberen Schiedsgerichts, vor dem Moskauer Bezirksgericht Dorogomilowski bestürzende Aussagen in einem Verleumdungsverfahren gegen den bekannten Rundfunk-Nachrichtenmoderator Wladimir Solowjow. In seiner Rundfunksendung hatte Solowjow dem leitenden Kreml-Bediensteten Waleri Bojew direkt vorgeworfen, dem Oberen Schiedsgericht Weisungen erteilt zu haben. [93] Herr Bojew verklagte ihn wegen Verleumdung, und Richterin Waljawina bestätigte in der Verleumdungssache als Zeugin, Herr Bojew habe ihr in der Tat gesagt, sie werde nach ihrer Probezeit nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können, wenn sie es ablehnen sollte, ihre Haltung in von ihr zu verhandelnden Fällen zu ändern. [94]

75.          Der zweite mit ToAZ in Verbindung stehende Fall ist der der Richterin Nadeschda Kostjutschenko, früher am Schiedsgericht des Gebiets Samara, die sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Sraßburg gewandt hat. Sie wurde zum Opfer der Behörden wegen ihrer Urteile zugunsten von ToAZ im Jahre 2005. [95] Der Fall wurde erstmals 2006 publik, als die Entlassung von Kostjutschenko zumeist als Folge der Bekämpfung der Korruption im Gerichtswesen dargestellt wurde. [96] In neueren Artikeln wird ein deutlich anderer Ton angeschlagen. Anatoli Iwanow, der Abgeordnete für Togliatti in der Russischen Staatsduma (Vereinigtes Russland) erklärte in einem Artikel in der „Parliamentary Gazette“ im März 2006,[97] Frau Kostjutschenko sei „unrechtmäßig ihre Stelle genommen worden“ und bedauerte, dass sie gezwungen war, sich zur Wahrung ihrer Rechte an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden. Ein weiterer Abgeordneter der Staatsduma, Gennadi Gudkow, der Stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsausschusses der Staatsduma, wird in einem Artikel der Nesawisimaja Gaseta [98] mit den Worten zitiert, Frau Kostjutschenkos Beschwerde in Straßburg zeuge von den schwerwiegenden Problemen des russischen Justizsystems. Gudkow zufolge besteht zurzeit die Tendenz, „unbequeme“ Richter aus Gerichtsverfahrern auszuschalten.
Der Journalist Wladimir Solowjow hat beide Fälle umfassend kommentiert [99] und angemerkt, gegen Herrn Bojew seien trotz der Aussagen von Richterin Waljawina vor Gericht noch kein Strafverfahren oder irgendwelche anderen amtlichen Ermittlungen eingeleitet worden.

76.          Ich hatte bei meinem Aufenthalt in Moskau keine Gelegenheit, mit Herrn Solowjow, Frau Waljawina oder Frau Kostjutschenko zu sprechen, ebensowenig mit den beiden Duma-Abgeordneten, die sie, Aussagen zufolge, öffentlich unterstützten. Einige unabhängige Experten, die ich fragte, ob dieser Fall eine „Frühlingsschwalbe“ sein könne, waren angesichts Herrn Solowjos normalerweise ausgeprägter regierungsfreundlicher Haltung skeptisch. Ich betrachte allein schon den Umstand, dass ein höherer Richter es wagte, öffentlich zu bestätigen, dass ein Beamter aus dem Kreml versucht habe, ihr Weisungen vorzugeben, als ermutigendes Anzeichen für das zunehmende Selbstbewusstsein russischer Richter. Dass der Moderator eines verbreiteten Nachrichtensenders diesen Fall aufgriff, macht deutlich, dass für solche Richter ein gewisses Maß an öffentlicher, wenn auch nicht „offizieller“ Unterstützung vorhanden ist. Es wird die Aufgabe des Europarats sein, mit solchen Kräften zusammenzuarbeiten, um diesen Trend, diese „kleine Schwalbe“, wie einer meiner skeptischen Gesprächspartner widerwillig einräumte, weiter zu stärken.

          c.    Die Ansichten der Führung des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation

77.          Während meines Gesprächs im Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation beschrieb Präsident Lebedew beredt die Fortschritte des russischen Justizwesen während der letzten Jahre. Beträchtliche Gehaltserhöhungen, nach denen russische Richter fast dreimal soviel verdienen wie ihre französischen oder deutschen Berufskollegen (im Vergleich mit den mittleren Arbeitnehmereinkommen in den drei Staaten), [100] haben die Abhängigkeit der Richter von „Gefälligkeiten“ der örtlichen Behörden, z.B. bei der Bereitstellung von Wohnraum, deutlich verringert. Ich betrachte angemessene Gehälter als notwendigen (wenn auch nicht ausreichenden) Beitrag zur Bekämpfung der Korruption, auch im Gerichtswesen.

78.          Herr Sedarenko, der Präsident des Richterrates der Russischen Föderation, und Herr Kusnezow, vom Obersten Qualifizierungskollegium für Richter, unterstrichen die Fortschritte bei der Arbeitsweise der von ihnen geleiteten Gremien, die die Aufgabe haben, die Unabhängigkeit der Judikative „nicht nur in Worten, sondern auch in der Realität“ sicherzustellen. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Herr Lebedew, betonte die „Sensibilität“ seines Gerichtshofs in der Frage der Unabhängigkeit und die wichtige Rolle des von ihm geleiteten Organs bei der Beratung der Regierung und der Staatsduma im Hinblick auf die weitere Verbesserung der verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Vorschriften für die Beschleunigung und weitere „Professionalisierung“ der Arbeit der Gerichte ohne Verletzung von Rechten. Präsident Lebedew begrüßte ebenfalls den seit 1998 erfolgten Übergang zur Selbstverwaltung des Gerichtswesens, bei dem die  Zuständigkeit für die Gerichtsverwaltung aus dem Justizministerium in die „Zentraldirektion für die Justizverwaltung“ beim Obersten Gerichtshof selbst verlagert wurde. Der Generaldirektor dieser Abteilung, der Ministerrang hat, wird nach Anhörung des Vorsitzenden des Richterrats von dem Präsidenten des Obersten Gerichts ernannt. Dem Obersten Qualifizierungsgremium (29 Mitglieder) gehören 9 Richter von Zivil- und Strafgerichten, 9 Richter von Schiedsgerichten, 10 von dem Föderationsrat ernannte Mitglieder und ein von dem Präsidenten der Russischen Föderation ernanntes Mitglied an. Herr Kusnezow erwähnte, dass es dem Qualifizierungsgremium gelungen sei, eine versuchte Änderung seiner Zusammensetzung durch Verweis auf europäische Standards abzuwehren, die vorsehen, dass mindestens die Hälfte seiner Mitglieder Richter sein müssen. Bewerbungsmöglichkeiten für vakante Richterpositionen (auch im Wege der Beförderung zu besetzende Stellen an Obergerichten) werden in den Medien bekanntgegeben. Entscheidungen und Empfehlungen des Kollegiums müssen begründet werden, ein vor kurzem auch von dem Verfassungsgerichtshof der Russischen Föderation betontes Erfordernis. Präsident Lebedew wies ferner darauf hin, dass er in dem Qualifizierungskollegium nicht mitstimmen darf. Er hatte einen Vorschlag einer Gruppe von Richtern abgelehnt, diese Regelung zu ändern, da er meinte, das Kollegium könne ohne ihn gelassener und flexibler arbeiten.

79.          Die oben umrissene institutionelle Struktur nimmt sich recht fortshrittlich aus, auch im direkten Vergleich mit anderen von mir besuchten Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Frankreich und insbesondere Deutschland. [101] Die Erwiderungen meiner Gesprächspartner auf meine Fragen, mit denen ich die tatsächliche Funktionsweise dieser Einrichtungen bewerten wollte, haben allerdings einen etwas anderen Eindruck entstehen lassen.

80.          Auf Fragen nach den Methoden zur Sicherstellung der Stimmigkeit und Einheitlichkeit der Urteile verschiedener Gerichte in der Russischen Föderation erläuterte Präsident Lebedew beredt die „seit Jahrzehnten“ befolgte Tradition, wonach der jeweilige Gerichtsvorsitzende, auch er selbst am Obersten Gerichtshof, Sitzungen und Konferenzen mit ihren Richtern, Mitarbeitern und Beratern abhielten, bei denen aktuelle Fälle erörtert würden. Sogar Videokonferenzen würden genutzt, um Gerichte in anderen Republiken und Regionen zu erreichen. Sie dienten außerdem zur Verbreitung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf die Russische Föderation. Alle derartigen Kontakte zu Richtern in Bezug auf anhängige Fälle wären jedoch “falsch”. Herr Lebedew verwies auf ein Fernsehprogramm vor einigen Jahren, in dem ein Duma-Abgeordneter erklärte, er habe ihn (Lebedew) gebeten, auf ein bestimmtes Urteil Einfluss zu nehmen. Er habe erwidert, so etwas dürfe er nicht und habe „seinen Ärger im Zaume halten“ müssen. Auf meine Frage nach dem Fall Kudeschkina lehnte er es ab, der endgültigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vorzugreifen.

81.          Die Antworten auf meine Fragen nach den Kriterien für die Beurteilung der Fähigkeiten von Richtern im Hinblick auf Beförderungen oder vielleicht auch Entlassungen blieben etwas unklar. Es wurde darauf verwiesen, das Kollegium berücksichtige, ob Richter „die richtigen Entscheidungen getroffen“ oder „Gesetzesverletzungen“ begangen hätten, die zu disziplinarischen Folgen führen könnten, was Fälle einzuschließen schien, in denen die Urteile in der Berufung aufgehoben wurden jedoch nicht „mechanisch“, sondern nach einer Prüfung der Urteile. Herr Kusnezow sagte nach einer Bitte um Klärung, das Kollegium prüfe nicht die Billigkeit oder Rechtmäßigkeit eines Urteils, sondern gehe nur Rechtsfehlern des Richters nach, wie das Übersehen einer Gesetzesänderung oder das Verkünden eindeutig rechtswidriger Urteile. Präsident Lebedew setzte hinzu, die Arbeit der Richter werde alle halbe Jahre oder alljährlich überprüft. Erweist sich ein Richter als seinem Amt nicht gewachsen, kann der Gerichtsvorsitzende disziplinarische Schritte des Qualifizierungskollegiums beantragen. Verzögerungen können zur Entlassung führen, ebenso auch unzureichende Qualität (z.B. die Aufhebung mehrerer Urteile durch ein höheres Gericht). Ein Gesetzesverstoß müsse nicht vorsätzlich erfolgt sein. Manchmal müsse Richtern deutlich gemacht werden, dass sie den falschen Beruf gewählt hätten.

82.          Auf meine Frage sagte Herr Kusnezow, Richter würden „äußerst selten“ entlassen – er nannte eine Zahl von 56 „vorzeitigen Aussetzungen richterlicher Befugnisse“ (Entlassungen). Ich finde diese Zahl recht hoch, bedenkt man die ausgeprägte Beschäftigungssicherheit (Lebensstellung), die Richter normalerweise genießen. Angesichts der obigen Aussagen ehemaliger Richter könnte die Zahl der Richter, die nach einem solchen Vorschlag (um ihre Rentenansprüche zu retten) „freiwillig“ aus dem Dienst ausscheiden, durchaus noch höher sein.

83.          Im Lichte der Treffen mit hochgestellten Vertretern des Obersten Gerichtshofs einerseits und führenden unabhängigen Experten, ehemaligen Richtern und Anwälten andererseits habe ich den Eindruck, dass russische Richter immer noch und vielleicht immer mehr unter dem schweren Druck stehen,  ,entsprechend den Erwartungen der Mächtigen zu „funktionieren“. Mehrere unabhängige Beobachter teilten mir mit, die Praxis der „Telefonjustiz“ ein Begriff, den Innenminister Raschid Nurgaljew anscheinend Ende 2008 verwendet hatte, [102] um Fälle zu beschreiben, in denen Richter Anrufe erhalten, mit denen ihnen gesagt wird, wie sie in einzelnen Fällen zu entscheiden haben habe sich in der Tat ausgebreitet, nicht jedoch im Sinne größerer Unabhängigkeit: Richter, die unbedingt vorauseilend den Wünschen ihrer „Vorgesetzten“ zu entsprechen bemüht sind, neigen zunehmend dazu, selbst zum Hörer zu greifen, um nach Weisungen zu fragen statt die Folgen einer Fehleinschätzung tragen zu müssen. Mein eigener Eindruck, auch angesichts der beträchtlichen Zahl von mit Einverständnis des Qualifizierungskollegiums aus ihrem Amt entfernter Richter und des großen Gewichts, das dem Inhalt der Urteile bei der Leistungsbewertung der Richter beigemessen wird, ist der, dass russische Richter weiterhin in einem Klima einer lebenslangen „Probezeit“ arbeiten und dass das Qualifizierungskollegium erst noch seine angemessene Rolle beim Schutz der Unabhängigkeit aller Richter finden muss, auch in Bezug auf diejenigen, die es wagen, Urteile zu fällen, die den Mächtigen des Landes missfallen könnten. Richter, die in einer solchen Atmosphäre immer noch völlig unabhängig ihrem Beruf nachgehen, laufen nach wie vor ein hohes Risiko, ihre Stelle zu verlieren und verdienen alle Unterstützung, die sie aus der russischen Gesellschaft wie auch seitens des Europarats bekommen können.

          d.    Geschworenenprozesse – ist eine entscheidende Reform bedroht?

84.          Die Einführung von Geschworenenprozessen in einigen Fällen mag zu einem kritischeren Heran­gehen an die Beweiswürdigung geführt haben mit einer entsprechenden Zunahme der Freisprüche , doch die meisten Rechtssachen werden immer noch von Berufsrichtern und Schöffen bearbeitet. Durch neuere Gesetzentwürfe soll die Möglichkeit der Angeklagten weiter eingeschränkt werden, einen Geschworenen­prozess zu verlangen indem dies in Fällen, bei denen es um Terrorismus, Landesverrat, Gefährdung der Staatssicherheit und von Staatsgeheimnissen sowie „Extremismus“ geht, ausgeschlossen wird. In diesem Entwurf sehen Reformanhänger einen Schritt in die falsche Richtung, insbesondere in Verbindung mit gleichzeitigen Gesetzentwürfen für die weitere Ausdehnung des Geltungsbereichs entsprechender Bestimmungen des Strafgesetzbuchs.

          e.    Verteidiger – ein Risikoberuf?

85.   Obwohl Verteidiger rein formell im Strafrechtssystem eine wichtigere Rolle erhalten haben, bestehen in der Praxis noch Probleme damit sicherzustellen, dass sie von der Qualität und dem „Standing“ her überzeugen. [103]

86.          Darüber hinaus sind sie in „sensiblen“ Fällen auch oft Einschüchterungen und Repressalien ausgesetzt. [104] Ich habe bereits die Drangsalierung der Anwälte beschrieben, die Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew während deren ersten Prozesses vertraten. [105] Leider setzt sich der auf sie ausgeübte Druck auch im Laufe des neuen Verfahrens unvermindert fort. Insbesondere Herrn Chodorkowskis Anwältin Karinna Moskalenko musste dies feststellen, als sie im November 2008 in Straßburg in ihrem Auto eine kleine Menge flüssigen Quecksilbers fand, [106] in einer Dosierung, die nicht tödlich sein sollte, aber ihre eigene Gesundheit und die ihrer Familie, auch die von zwei kurz zuvor adoptierten Kleinkindern, ernsthaft gefährdete. [107] Lew Ponomarjow, ein führender russischer Menschenrechtsaktivist, der offen für Herrn Chodorkowski eintritt und der Vater der Anwältin Jelena Lipzer, eines weiteren wichtigen Mitglieds von Herrn Chodorkowskis Juristenteam, ist, wurde in Moskau auf dem Heimweg von einem Treffen mit mir in seinem NRO-Büro brutal zusammengeschlagen. [108] Diese Angriffe sind von den Urhebern als Warnungen und Einschüchterungen gedacht, mit denen die Bereitschaft geschwächt werden soll, Mandanten zu verteidigen. Ich muss diese Sicht der Dinge ganz einfach teilen und bin schockiert, dass die Behörden entweder nicht willens oder aber nicht in der Lage sind, diese mutigen Anwälte und ihre Angehörigen zu schützen.[ 109]

87.          Bei meinem Besuch in London und dann auch in Berlin wurde ich vor meiner Abreise nach Moskau sehr detailliert von den im Vereinigten Königreich praktizierenden Anwälten des Hermitage Fund/HSBC über die fast unglaubliche (aber gut belegte) Geschichte des anscheinend unter Beteiligung hoher Beamter erfolgten Anschlags auf den bis 2006 größten ausländischen Investor auf dem russischen Aktienmarkt informiert. Insbesondere wurden alle Juristen, die in der Russischen Föderation für HSBC/Hermitage tätig waren, eingeschüchtert und und von der Polizei mit Durchsuchungen und der Einvernahme als Zeugen behelligt unter Verletzung des Anwalt-Mandanten-Privilegs. Am 20. August 2008 stürmte die Polizei die Moskauer Büroräume aller Anwaltskanzleien, die HSBC und Hermitage vertraten, insbesondere die der in Moskau vertretenen US-Kanzlei Firestone Duncan sowie die der selbständigen Anwälte Eduard Chairetdinow, Wladimir Pastuchow und Wadim Gorfel. [110] Bei den Durchsuchungen wurden von der Polizei Vollmachten beschlagnahmt, die es den Anwälten erlaubten. HSBC bei für dieselbe Woche angesetzten Gerichtsverhandlungen zu vertreten anscheinend ein Versuch, die Bemühungen von HSBC zu vereiteln, noch laufende Betrugsmanöver zu unterbinden. [111]

 

88.          Ende August 2008 wurden alle Anwälte, die HSBC/Hermitage unabhängig vertraten – Herr Chairetdinow, Herr Pastuchow und Herr Gorfel, denen es gelungen war, betrügerische Forderungen gegen die HSBC-Firmen aufzudecken und die dabei waren, ein unrechtmäßiges Insolvenzverfahren anzufechten, von der Polizei in Kasan zu einer Zeugenvernehmung vorgeladen – unter Verstoß gegen Artikel 8 des russischen Anwaltsgesetzes, nach dem Rechtsbeistände nicht zu Fällen befragt werden dürfen, in denen sie juristische Hilfestellung leisten.

89.          Am 24. November 2008 wurde der selbständige Anwalt Sergei Magnizkei, der HSBC/Hermitage bei der Aufdeckung von Betrugsfällen und Amtsmissbrauch geholfen hatte, festgenommen und kam in Untersuchungshaft. An demselben Tag durchsuchte die Polizei seine Anwaltskanzlei, und entgegen dem russischen Verfahrensrecht durfte der Rechtsbeistand der Firma, wie es heißt, während der Durchsuchung nicht dabei sein. Herrn Magnizkeis Anwälten zuolge wurde er in den vier Monaten, nachdem das Gericht am 26. November 2008 seine Inhaftierung genehmigt hatte, noch nicht ein einziges Mal verhört. Die Untersuchungshaft unter unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen [112] wurde am 13. März 2009 wegen der Notwendigkeit, die gleichen Vorermittlungen durchzuführen, die als Grund für seine erste Inhaftierung angeführt worden waren, um drei Monate verlängert. [113] Gegen einen weiteren für Hermitage/HSBC tätigen Anwalt, Herrn Eduard Chairetdinow, wurde Ende November 2008 ein Strafverfahren eingeleitet, weil er angeblich eine ungültige Vertretungsvollmacht verwendet hatte, wobei frühere Urteile und Aussagen von HSBC-Vorständen, in denen seine Vollmacht anerkannt wurde, keine Berücksichtigung fanden. Am 2. April 2009 wurde aus den gleichen Gründen ein Strafverfahren gegen Herrn Pastuchow eröffnet.

90.          Ich hatte in meine Schreiben an den Leiter des Ermittlungsausschusses und den Generalstaatsanwalt Fragen zu der behaupteten Belästigung der Anwälte von HSBC/Hermitage und die Inhaftierung von Sergei Magnizkei aufgenommen. [114] In der Antwort des Ermittlungsausschusses wurde bestätigt, dass Herr Magnizkei in einer bestimmten Strafsache als Zeuge vernommen worden war, [115] doch zugleich unterstrichen, Zwangsmaßnahmen seien nicht gegen ihn ergriffen worden und insbesondere sei er nicht „in Haft“ gewesen. Nachdem ich diese Erwiderung mit Herrn Magnizkeis Anwälten überprüft hatte, die mir Dokumente vorgelegt hatten, die seine Inhaftierung belegten, stellte es sich heraus, dass Herr Magnizkei unter einer anderen Fallnummer in Haft genommen worden war, [116] die auch für den Hermitage-Komplex galt. Die Antwort des Ermittlungsausschusses war, gelinde gesagt, leicht misszuverstehen. Angesichts dieser Erwiderung und der genauen Angaben der für HSBC/Hermitage tätigen Anwälte (Daten, Orte und beteiligte Persons, auch auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden) bin ich nicht überzeugt, dass ich ohne weitere Nachfragen die zusätzliche Erklärung in dem Antwortschreiben hinnehmen kann, dass „für die Firma HSBC/Hermitage arbeitende Anwälte … nicht befragt (wurden)“, was sich einmal mehr nur auf eine einzelne Fallnummer beschränken mag. Die Antwort der Generalstaatsanwaltschaft zu diesem Fall ist insofern präziser, als sie Herrn Magnizkeis Inhaftierung einräumt und die Haftgründe nennt ein Strafverfahren, das am 4. Oktober 2004 von Ermittlern des Innenministeriums der Republik Kalmückien wegen Steuerflucht  angestrengt worden war. Sie liefert jedoch keine Erklärung dafür, weshalb er im November 2008 festgenommen und dann mehrere Monate lang nicht ein einziges Mal verhört wurde. Entgegen der Antwort des Ermittlungsausschusses erkennt die Generalstaatsanwaltschaft an, dass gegen für HSBC/Hermitage tätige Anwälte Strafverfahren eingeleitet wurden, auch gegen Herrn Magnizkei, Herrn Chairetdinow und Herrn Pastuchow (bei dem letzteren auch wegen „Verwendung gefälschter Unterlagen“).

91.          Herr Genri Markowitch Reschnik, der Vorsitzende der Moskauer Anwaltskammer, teilte mir mit, er habe den Leiter des Ermittlungsausschusses angeschrieben und verlangt, die für die Verfolgung der Hermitage-Anwälte verantwortlichen Personen zur Rechenschaft zu ziehen. Innerhalb der Moskauer Anwaltskammer wurde kürzlich ein Anwaltsschutzausschuss eingerichtet, um gegen die rechtswidrige Verfolgung von Anwälten Widerstand zu leisten. Mehrere  prominente Menschenrechtsanwälte  lobten Herrn Reschnik und seine Bilanz bei dem aktiven Schutz von Anwälten in höchsten Tönen, indem er es zum Beispiel ablehnte, Anklagen seitens der Generalstaatsanwaltschaft vor dem Qualifizierungsgremium für Anwälte der Anwaltskammer zu unterstützen.

 

92.           Ein weiterer in den Medien publik gemachter Fall der Vergeltung gegen einen Anwalt ist die Ermordung von Herrn Markelow am 19. Januar 2009, die zu einer öffentlichen Erklärung des Ausschusses für Recht und Menschenrechte vom 27. Januar 2009 Anlass gab. [117] Herr Markelow hatte gerade eine Pressekonferenz verlassen, auf der er angekündigt hatte, er werde im Namen der Angehörigen des Opfers Einspruch gegen die Haftentlassung von Oberst Budanow einlegen, der wegen der Vergewaltigung und Ermordung eines jungen Mädchens in Tschetschenien verurteilt worden war. Oberst Budanow ist, wie es heißt, bei militanten faschistischen Gruppierungen in der Russischen Föderation zum Helden hochstilisiert worden.

93.          Der Anwalt Boris Kusnezow hatte unter anderem festgestellt, dass sein Mandant, ein Mitglied des Föderationsrats, rechtswidrig abgehört worden war. Seine erste Beschwerde beim Obersten Gerichtshof wurde nicht einmal behandelt. Er rief dann den Verfassungsgerichtshof an und fügte eine Kopie eines Berichts bei, aus der hervorging, dass tatsächlich abgehört worden war. Da der Bericht als geheim eingestuft worden war, wurde Herr Kusnezow wegen Verletzung eines Staatsgeheimnisses unter Anklage gestellt und musste ins Ausland fliehen. Der Anwalt, der mich über diesen Fall informierte, betonte, dass Herr Kusnezow den Bericht nicht an die Öffentlichkeit gegeben hatte. Er hatte ihn lediglich als Beweis eines Verstoßes, wegen dessen er sich im Auftrag eines Mandanten beklagte, dem Verfassungsgerichtshof vorgelegt. [118] Die Antwort des Generalstaatsanwalts auf meine diesbezüglichen Fragen beschränkt sich auf Zitate aus der Gesetzgebung, wonach auch Anwälte Amtsgeheimnisse wahren müssen, mit denen sie bei ihrer Arbeit in Berührung kommen sowie auf den nachdrücklichen Hinweis, solche Geheimnisse würden „preisgegeben“, wenn solche Informationen „anderen“ zur Kenntnis kämen was implizite auch die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs der Russischen Föderation einschließt.

f.     Unzulängliche Sicherungsmaßnahmen während des Verfahrens gegenüber Unregelmäßigkeiten in der Ermittlungsphase

94.          Der Verfahrensprozess bietet möglicherweise immer noch keine angemessenen Sicherungen gegenüber Unregelmäßigkeiten in der Ermittlungsphase. [119] Die Zugangseinschränkung der Verteidiger während der Vorermittlungen kann schwerwiegende Auswirkungen auf die Billigkeit des Verfahrens selbst haben. Ich fand ein konkretes Beispiel im Gerichtssaal 2004 bei dem ersten Prozess gegen Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew. Ich konnte selbst beobachten, wie ein Zeuge der Anklage, der seine Aussage vor Gericht gegenüber der, die er in der Ermittlungsphase in Abwesenheit der Verteidiger gemacht hatte, ändern wollte, von dem Staatsanwalt so sehr eingeschüchtert wurde, dass er sich bereit fand, seine mündliche Aussage durch das Vorlesen des Protokolls seines Ermittlungsverhörs ersetzen zu lassen. [120]


95.         
Darüber hinaus wird die Taktik der Staatsanwaltschaft, Fälle mit verschiedenen Personen, die einer Teilnahme an denselben strafbaren Handlungen beschuldigt werden, immer noch sehr häufig angewandt, auch bei dem neuen Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew. Diese Taktik soll das Aussageverweigerungsrecht wegen Gefahr der Selbstbezichtigung sowie den gesetzlich vorgesehenen Schutz der Kommunikation zwischen Anwälten und ihren Mandanten umgehen und letztlich Tatsachen oder „Präzedenzfälle“ schaffen, die in spätere Verfahren gegen andere angebliche Teilnehmer „importiert“ werden können, ohne dass die Verteidigung an dem späteren Verfahren wirklich teilnimmt. Solche Taktiken scheinen das Recht auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK) zu untergraben. [121]

g.    „Rechtsnihilismus“ – zwei beispielhafte Fälle


96.         
Kürzlich räumte der neue Präsident der Russischen Föderation, Herr Medwedew, ein, dass das russische Strafrechtssystem und insbesondere die Staatsanwaltschaft noch strukturelle Mängel aufweisen, die zur Anklageerhebung gegen viele Unschuldige und ihrer Verurteilung führen. [122] Der von dem Präsidenten verwendete Begriff des „Rechtsnihilismus“ fand bei allen meinen Gesprächspartnern in Moskau Verständnis.

97.          Das Wort „Rechtsnihilismus“ kam mir auch in den Sinn, als ich bis in alle Einzelheiten über zwei beispielhafte Fälle informiert wurde: den zweiten Chodorkowski/Lebedew-Prozess und die Wirren um den Hermitage Fund.

·         Die Jukos-Fälle – Michail Chodorkowski, Platon Lebedew und andere


98.         
Ich hatte Gelegenheit, am 31. März 2009 im Moskauer Chamowniki-Gericht an der Eröffnung des neuen Verfahrens gegen Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew teilzunehmen. [123] Der Gerichtssaal war sehr klein. Es gab im Grunde nur Platz für 23 Vertreter der Öffentlichkeit, während viele andere auf der Treppe warteten. Ich war ein wenig verlegen, auf Drängen der Verteidiger bevorrechtigten Zugang erhalten zu haben. Eine Reihe von Journalisten durften sich allerdings zu Verhandlungsbeginn noch hineindrängen, zum Teil sogar mit Kameras (Später sagte man mir, dies könne mit meiner Anwesenheit zusammengehangen haben, da es bei darauffolgenden Verhandlungen nicht mehr gestattet wurde). Wie beim ersten Prozess war die Atmosphäre recht gespannt, und die Angeklagten befanden sich wiederum in einer Art „Käfig“ (diesmal aus Plexiglas und nicht aus Stahlstäben wie bei dem Käfig des ersten Prozesses von 2003). Im Gegensatz zu 2003 erlaubte mir der Richter jedoch, zu Beginn der Mittagspause zehn Minuten lang mit den Angeklagten zu sprechen auf Antrag der Verteidigung und nach Überprüfung meines Mandats als Berichterstatterin der Parlamentarischen Versammlung. Ich hatte den Eindruck, dass die beiden Angeklagten guter Dinge waren. Sie bedankten sich für die Beachtung, die ihr Fall bei der Parlamentarischen Versammlung gefunden hat und zeigten sich traurig über das Leiden vieler ihrer früheren Mitarbeiter und Anwälte, darunter auch Herr Alexanjan [124] und Frau Bachmina. [125] Ich versicherte ihnen, dass ich im Rahmen meines Mandats weiterhin sorgfältig verfolgen würde, ob auch in diesen Fällen die europäischen Menschenrechtsstandards beachtet werden würden.

99.          Angesichts der juristischen Rechtfertigung für die neuen Strafverfahren gegen Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew bin ich perplex. Ich möchte von vornherein betonen, dass ich nicht versuche, mich zur Richterin aufzuschwingen, doch ich bemühe mich, die hinter den Anklagen liegende Argumentation zu verstehen. Im Hinblick auf ein faires Verfahren muss jede Anklage logischen Mindestanforderungen genügen, damit eine sinnvolle Verteidigung überhaupt möglich ist. Es ist natürlich Sache der Gerichte, die Grundtatsachen zu ermitteln und darauf das Gesetz anzuwenden, wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antwort auf meine schriftlichen Fragen mit Recht hervorhob. [126] Der Sachverhalt muss jedoch, wie immer er aussehen mag, zumindest in plausibler Form einen Straftatbestand darstellen, damit ein Strafverfahren überhaupt einen rechtlichen Sinn haben kann. Ich bin der Auffassung, dass mein Mandat als parlamentarische Berichterstatterin die Möglichkeit abdeckt, eine solche abstrakte Bewertung vorzunehmen. Die Anwälte der Verteidigung betonen die grundlegende Unlogik der neuen Anklagepunkte und das bisherige Unvermögen der Staatsanwaltschaft, auch nur irgendwelche spezifsichen Handlungen oder Unterlassungen der Angeklagten anzugeben, an die die Anklagepunkte anknüpfen könnten. Der Prozess selbst erschöpft sich bisher darin, dass dem Anschein nach rein zufällig kurze Abschnitte aus Firmenunterlagen oder anderen Dokumenten vorgelesen werden, ohne dass nicht einmal aus der Sicht der Anklage ihre Bedeutung erörtert würde. Herrn Lebedews Verlangen, „dass die Staatsanwälte erklären, welche Beweismittel welchem Vorgang und welcher Anklage entsprachen“ erscheint mir ebenso sinnvoll wie das Insistieren der Verteidiger darauf, dass „die Unterlage nicht nur vorgelesen, sondern auch geprüft werden sollten“. [127] Meiner Meinung nach sollte sich das bei jedem Prozess von selbst verstehen.

100.       Soweit überhaupt klar ist, was die neuen Anklagepunkte beinhalten, [128] scheinen sie der ersten Verurteilung von Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew zu widersprechen. In dem ersten Urteil wurden die beiden früheren Jukos-Manager im Wesentlichen aufgrund folgender Tatbestände strafrechtlich des Betrugs und der Steuerflucht für schuldig befunden: Dem Gericht zufolge blähten sie die Gewinne der in Niedrigsteuergebieten der Russischen Föderation ansässigen Handelsgesellschaften künstlich auf, die nicht mit Jukos verbunden waren, aber “Scheingesellschaften” gewesen sein sollen, die von Chodorkowski und Lebedew kontrolliert wurden. Dies soll zu Lasten der im höher besteuerten Moskau ansässigen Muttergesellschaft erfolgt sein, und zwar indem die Produktionstöchter Öl zu einem niedrigen Preis an die Handelsgesellschaften verkauften, die es dann zu (höheren) Weltmarktpreisen weiterverkauften. Ich möchte die von dieser Verurteilung aufgeworfenen Rechtsfragen nicht kommentieren, auch nicht den Umstand, dass alle ressourcengestützten Firmen Angaben zufolge dasselbe „Steuerschlupfloch“ genutzt hatten, das rückwirkend [129] viele Jahre nach den betreffenden Transaktionen geschlossen worden war oder dass die Strafverfolgung der ehemaligen Jukos-Manager selektiv erfolgte. [130] Es ist jedoch klar, dass mit dem ersten Urteil nicht einmal die Rechtmäßigkeit der Förderung und des Verkaufs des Öls sowie der Verfügung über die Erlöse in Frage gestellt wurde, welche teils in das Unternehmen reinvestiert, teils an die Aktionäre ausgeschüttet wurden. Der Streit ging darum, ob Jukos Steuerzahlungen gesetzestreu vermieden („optimiert“) oder eine strafbare Steuerflucht begangen hatte. [131]

101.       Herr Chodorkowski and Herr Lebedew beklagten sich während ihres ersten Prozesses über parallel geführte Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft. Sie beschwerten sich, sie hätten spätestens zu Beginn des ersten Prozesses 2004 gemäß Artikel 6 EMRK von allen Anklagepunkten in Kenntnis gesetzt werden müssen. Gut drei Jahre später, als sie gerade für eine bedingte Entlassung in Frage kamen, wurden sie infolge dieser parallel betriebenen Ermittlungen angeklagt. Die Parallelermittlungen in Bezug auf damit verbundene Behauptungen von Fehlverhalten hätten vor Beginn des ersten Prozesses abschließend behandelt, offengelegt und mit einer Entscheidung darüber beendet werden sollen, ob weitere Anklagepunkte hätten vorgebracht werden sollen oder können. Herr Chodorkowski und Herr Lebedew erklären dazu, es sei ein unerträglicher Verfahrensmissbrauch gewesen, die Staatsanwaltschaft mehr als eine Ermittlung über das im Wesentlichen gleiche Fehlverhalten durchführen zu lassen.

102.       Mit den neuen Anklagepunkten werden Herr Chodorkowski und Herr Lebedew beschuldigt, das gesamte Öl veruntreut zu haben, das die drei Jukos-Produktionstöchter in sechs Jahren gefördert hatten; Aktien unterschlagen zu haben, die eine Jukos-Tochter an einer der Produktionsgesellschaften sowie fünf anderen Firmen gehalten hatte und die Erlöse aus dem Verkauf des angeblich veruntreuten Öls und der Anteile an den indirekten Tochtergesellschaften „gewaschen“ zu haben. Der Punkt „Öldiebstahl“ wirkt bizarr: Er würde die Kriminalisierung der oben beschriebenen offen und allgemein angewandten Geschäftspraxis bedeuten – dabei würden die „Verluste“ der Produktionstöchter die Differenz zwischen den von der Handelstochter wahrgenommenen Spot-Preisen am Markt von Rotterdam und dem der Produktions­gesellschaft gezahlten niedrigeren Preis ausmachen wie auch die Kriminalisierung als „Geldwäsche“ der Verfügung über sämtliche normalen Unternehmensgewinne für reguläre Unternehmens­zwecke (Investitionen und Ausschüttung von Dividenden in Übereinstimmung mit transparenten, geprüften Bilanzen). [132] Der Anklagepunkt, wonach Herr Chodorkowski und Herr Lebedew das Öl „gestohlen“ oder Aktiva von Jukos in anderer Form zu ihrem persönlichen Vorteil veruntreut haben könnten, scheint ebenfalls von vornherein aufgrund eines Vergleichs der nachstehenden Zahlen widerlegt zu sein: [133] Von 1998 bis 2003 verzeichnete Jukos einen Betriebsgewinn von US$ 55,2 Mrd. In dem gleichen Zeitraum zahlte das Unternehmen unter anderem US$ 21,8 Mrd. für Betriebsaufwand (auch auf der Ebene der Explorations- und Fördergesellschaften), US$ 16,9 Mrd. an Steuern und US$ 9 Mrd. für Investitionen. Wie können die Angeklagten bei einer Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben von weniger als US$ 8 Mrd. zu ihrer persönlichen Bereicherung US$ 25,3 Mrd. „unterschlagen“ haben? [134] Woher soll dieses Geld gekommen sein?

103.       In der Erwiderung auf meine skeptische Frage, ob es nicht darum gehen könne, dass Minderheitsaktionäre rechtswidrig benachteiligt wurden, wurde mir mitgeteilt, alle Streitigkeiten mit Minderheitsaktionären seien schon vor Jahren beigelegt worden und selbst die Staatsanwaltschaft behaupte nicht, Rechte von Minderheitsaktionären seien verletzt worden. Im Wesentlichen wird Jukos, also praktisch seinen leitenden Managern, darum vorgeworfen, das eigene Öl gestohlen zu haben und die Straftat der Geldwäsche zu begehen, indem es das Öl auf dem Weltmarkt verkauft und die Erlöse für normale Unternehmenszwecke verwendet.

104.       Der zweite neue Anklagepunkt – Unterschlagung von Aktien und Geldwäsche der Erlöse – ist ein wenig komplizierter, doch scheint er der früheren Einstellung der Behörden ebenfalls zu widersprechen. Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Angeklagten hätten die Aktien einer Jukos-Tochter (VNK) unter­schlagen, einer Holdinggesellschaft, die eine Mehrheitsbeteiligung an sechs Betriebsgesellschaften hielt. Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Angeklagten hätten Aktien dieser Betriebsgesellschaften veruntreut, indem sie unzulässigerweise VNK zu Vereinbarungen mit Jukos veranlassten, bei seinen operativen Tochtergsellschaften Jukos-Aktien gegen VNK-Aktien zu tauschen. [135] Die Verteidigung betont, dass die Aktientauschvereinbarungen ein Mittel zum rechtmäßigen Schutz der Aktiva von VNK darstellten (welche durch einen damals laufenden Prozess bedroht waren, der auf Betrugsmanöver des früheren VNK-Managements zurückging) und somit auch der Russischen Föderation zugute kamen, die damals 37% der VNK-Aktien hielt. Der Minister für Staatsvermögen wusste von dem Aktientausch und billigte ihn. Nachdem der betreffende Streit gelöst worden war und im Anschluss an eingehende Ermittlungen über die Jukos/VNK-Aktientauschvereinbarungen zwischen 1999 und 2001 beschloss die Russische Föderation 2002, Jukos ihre verbliebenen VNK-Aktien zu verkaufen. Die Verteidigung meint dazu, die Behörden könnten jetzt nicht argumentieren, Jukos habe rechtswidrig versucht, durch die erwähnten Tausch­maßnahmen die Kontrolle über die Aktiva von VNK zu erlangen.

105.       Neben ihrer anscheinend bestehenden Widersprüchlichkeit gegnüber dem ersten Urteil gegen Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew scheinen die neuen Anklagepunkte der Unterschlagung von Öl und der Geldwäsche auf genau den gleichen Tatsachen zu beruhen – der Ölförderung durch hundertprozentige Tochtergesellschaften von Jukos und dem Verkauf auf dem Weltmarkt über die von den Angeklagten geführte Muttergesellschaft. Dabei fällt einem natürlich die Vorschrift ne bis in idem (Artikel 4 Absatz 1 des Protokolls Nr. 7 der EMRK) ein, da die neuen Anklagepunkte anscheinend bezwecken, den gleichen Tatbeständen andere rechtliche Bezeichnungen zuzuordnen, statt die Angeklagten wegen anderer Tatbestände zu verfolgen. [136]

106.       Eine weitere mit Jukos verbundene Strafsache endete mit einer Verurteilung zu lebenslänglicher Haft, die von der breiten Öffentlichkeit so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen wurde: Es ging um Herrn Alexei Pitschugin, einen Abteilungsleiter des internen Sicherheitsdienstes von Jukos, der zuvor als Offizier des KGB/FSB tätig gewesen war. In meinem Bericht von 2005 über „die Umstände der Verhaftung und Strafverfolgung leitender Jukos-Manager“ beschrieb ich einige auffällige Anomalien der Vorermittlungen gegen Herrn Pitschugin, die damals gerade erst begonnen hatten. [137] Besonders beunruhigten mich Informationen, denen zufolge Herrn Pitschugin mit Vergeltung gedroht worden war, weil er es abgelehnt hatte, gegen leitende Jukos-Manager falsch auszusagen und dass sein Prozess unter strikter Geheimhaltung stattfinden werde. Ich berichtete auch über die Aussage eines Anwalts, der sich für einen Mann namens Reschetnikow einsetzte, welcher seinem Anwalt zufolge zu Unrecht wegen eines von Jukos angeordneten Mordversuchs an einem Geschäftsmann namens Rybin verurteilt worden war, der den Mordversuch in Wirklichkeit erfunden hatte, um seine Interessen bei einer Klage gegen Jukos in Österreich zu fördern. Herr Reschetnikow war seinerzeit in die Haftanstalt Lefortowo verlegt worden, wo ihm, wie es heißt, ein „Deal“ angeboten wurde Freiheit bei einer Falschaussage gegen Jukos-Manager. Auf Anraten seines Anwalts, der mir auch beschrieb, wie schwierig es für ihn gewesen sei, Zugang zu seinem Mandanten zu erhalten, lehnte Herr Reschetnikow es seinerzeit ab, auf diesen „Deal“ einzugehen. [138] Bei meinem letzten Besuch in Moskau überreichte mir eine junge Frau, die sich als Herrn Pitschugins „Pflichtverteidigerin“ bezeichnete, einen Artikel, in dem der Fall ihres Mandanten zusammengefasst war. Ich war doch recht entsetzt, als ich feststellte, dass Herr Pitschugin diesem Dokument zufolge unter anderem wegen versuchten Mordes an Herrn Rybin wegen zwei Beweisunterlagen verurteilt wurde: der Aussage von Herrn Reschetnikow und einer handschriftlichen Aufzeichnung aus Herrn Pitschugins Wohnung mit Herrn Rybins Anschrift (Herr Pitschugin bestritt, dass der Vermerk von ihm geschrieben worden sei, und der Antrag der Verteidiger, ein graphologisches Gutachten einzuholen, war von dem Gericht abgelehnt worden). Ein weiterer beunruhigender Aspekt des Prozesses gegen Herrn Pitschugin ist die Art und Weise, wie die Einvernahme der Zeugen bei dem zweiten Versuch „absolviert“ wurde, die Zweifel zu beseitigen, die den Obersten Gerichtshof dazu veranlasst hatten, den ersten Schuldspruch vom 17. August 2006 aufzuheben. Bei dem ersten Prozess hatte Herr Reschetnikow nämlich ausgesagt, er habe das Honorar für den Mord an Herrn Pitschugin und Herrn Newslin über einen (verstorbenen) Mittelsmann erhalten. Die Verteidigung hatte gegen die Verwendung solcher Beweise vom „Hörensagen“ protestiert. In dem zweiten Prozess erinnerten sich die Zeugen mit einem Mal daran, dass Herr Pitschugin und Herr Newslin bei diesem Gespräch selbst dabeigewesen waren. Auch während des ersten Prozesses blieben, wie es heißt, Widersprüche zwischen dem Aussehen des (dunkelhaarigen) Herrn Reschetnikow, der des betreffenden Mords angeklagt war und zahlreichen Zeugen, die am Tatort eine blonde Person gesehen hatten, unaufgeklärt. In dem zweiten Prozess erinnerten sich Herr Reschetnikow und der andere Kronzeuge erstmals, dass sie seinerzeit blonde Perücken trugen.

 

107.       Diese Punkte, auf ich mehr oder weniger zufällig stieß, lassen mich befürchten, dass auch Herr Pitschugin zum Opfer der unerbittlichen Kampagne gegen alle geworden sein könnte, die etwas mit Jukos und seinen leitenden Managern zu tun hatten.

 

·      HSBC/Hermitage Capital

108.       Der zweite geradezu symbolische Fall ist der von Hermitage Capital, einer Investmentgesellschaft, die sich auf Kapitalbeteiligungen an russischen Unternehmen spezialisiert hatte. Vor den weiter unten beschriebenen Ereignissen war Hermitage Capital der größte ausländische Investor am russischen Aktienmarkt und einer der größten Steuerzahler der Russischen Föderation. Zur Strategie des Unternehmens, die aus rein geschäftlichen Gründen und ohne ideologische oder politische Zielsetzungen gewählt worden war, gehörte die Einführung westlicher Rechnungslegungsmethoden bei Firmen, in die Hermitage investierte und damit auch die Bekämpfung der Korruption. Der Hermitage Fund wurde das Opfer der Korruption und Kollusion hoher Polizeibeamter und organisierter Krimineller mit der Folge der Unterschlagung („Firmendiebstahl“) seiner drei der HSBC-Bank gehörenden Investmentgesellschaften (Rilend, Mahaon und Parfenion), des betrügerischen Fingierens falscher Verbindlichkeiten gegen sie in Höhe von US$ 1,26 Mrd. und einer durch Betrug erzielten Rückzahlung von US$ 230 Mio. an Steuern, die die drei Firmen gezahlt hatten, durch die russischen Finanzbehörden. Der „Diebstahl“ der Unternehmen erfolgte mit Hilfe von Originalen der vorgeschriebenen Firmenunterlagen, die von Moskauer Polizeibeamten bei einer Durchsuchung der Räumlichkeiten der Unternehmen ohne rechtliche Handhabe beschlagnahmt worden waren. Damit wurden anschließend neue Vorstandsmitglieder [139] ernannt, die die oben erwähnten falschen Ansprüche schleunigst „anerkannten“ [140] – wobei es den rechtmäßigen Vorstandsmitgliedern bereits gelungen war, die Vermögenswerte der gestohlenen Firmen aus der Russischen Föderation herauszuschaffen. Die falschen Vorstände machten diesen Angriff auf Unternehmen dann zu Geld, indem sie die Erstattung von Steuern auf Gewinne verlangten, die, wie sie den Finanzbehörden mitteilten, durch die neu aufgetauchten Forderungen an die Firmen rückwirkend gelöscht wurden. Sie erwirkten bei den Finanzbehörden Entscheide, wonach innerhalb von 24-72 Stunden der Gegenwert von US$ 230 Mio. zu erstatten sei. [141] Ich wage nicht, darüber zu spekulieren, wie lange eine Forderung nach der Erstattung zuviel gezahlter Steuern, selbst bei einem deutlich bescheideneren Betrag, in der Russische Föderation normalerweise im Raum steht, doch in Deutschland würde es sich um Monate, nicht um Stunden handeln.

 

109.       Bisher sieht dies ganz einfach nach einem weiteren Beispiel eines „Firmenüberfalls“ (oder einer „feindlichen Übernahme“) nach russischer Art aus, worüber schon vielfach berichtet wurde. [142] Neben der schieren Größe des betroffenen Unternehmens und der internationalen Auswirkungen ist dieser Fall insofern etwas Besonderes, als das Management von Hermitage/HSBC, als es versuchte, sich mit Hilfe der zuständigen Behörden gegen diese groß angelegten Betrügereien zu verteidigen, selbst zum Opfer systematischer Vergeltungsmaßnahmen wurde, die die Unterstützung leitender Polizeibeamter gehabt haben müssen. Bei diesen anscheinenden Vergeltungsmaßnahmen geht es um den internationalen Mechanismus der justiziellen Zusammenarbeit, deren Funktionieren angesichts behaupteter politisch motivierter Missbrauchshandlungen ich zu prüfen beauftragt bin.

110.       Herrn William Browder, britischer Staatsbürger, Chief Executive Officer von Hermitage Capital, wurde mit einem Mal die Erneuerung seines Einreisevisums in die Russische Föderation verweigert, obwohl sich höchste politische Kreise für ihn eingesetzt hatten. [143] Die Betrugsmanöver gegen Hermitage Capital wurden in Beschwerden an den Generalstaatswalt der Russischen Föderation vom 3. Dezember 2007, dem 23. Juli 2008 und dem 27. Oktober 2008 dokumentiert. Den für Hermitage tätigen Anwälten zufolge ist auf diese Beschwerden keine materiell-rechtlich relevante Antwort ergangen. Ein höherer Beamter, der von den Beschwerden betroffen war, wurde den Ermittlungen gegen sich selbst zugewiesen, und die Abteilung des Moskauer Süddistrikts des Ermittlungsausschusses der Staatsanwaltschaft  stellte das Verfahren, das nach den Beschwerden von HSBC/Hermitage eingeleitet worden war, schnell wieder ein. Statt gegen die „corporate raiders“ vorzugehen, begannen die Behörden damit, alle Anwälte einzuschüchtern, die in der Russischen Föderation für HSBC/Hermitage tätig waren, sie polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen und Einvernahmen als Zeugen auszusetzen. Vor allem wurde der selbständige Anwalt Sergei Magnizkei, der dabei geholfen hatte,  die Betrugsvorgänge und die Fälle von Amtsmissbrauch aufzudecken, am 24. November 2008 festgenommen und ist seitdem in Haft. [144] Andere sahen sich gezwungen, im Vereinigten Königreich Zuflucht zu suchen. Dieselben Polizeibeamten, die bei den Beschwerden in der Sache HSBC/Hermitage beschuldigt worden waren, an diesen groß angelegten Betrugsmanövern beteiligt zu sein, sind nun damit beschäftigt, die Manager und Anwälte des Unternehmens mit Anklagen zu verfolgen, die sehr weit hergeholt wirken und den früheren Maßnahmen der Behörden zu widersprechen scheinen. Im Wesentlichen scheinen die Behörden jetzt die legitimen Vorstandsmitglieder der SBC/Hermitage-Firmen zu beschuldigen, sie hätten den „Diebstahl“ ihrer eigenen Unternehmen sowie die Anerkennung der konstruierten Ansprüche selbst gesteuerrt, um den russischen Staat zu betrügen. Ich habe mich viele Stunden lang von Anwälten informieren lassen, die für  HSBC/Hermitage arbeiteten und habe sie befragt. Ebenso habe ich den russischen Generalstaatsanwalt und den Vorsitzenden des Ermittlungsausschusses angeschrieben, um mich über ihre Sicht der Dinge informieren zu lassen. [145] Die Antworten, die ich von dem Ermittlungsausschuss erhalten habe, können nicht zufriedenstellen. Insbesondere scheint die Aussage, eine Erwiderung auf die im Namen von Hermitage/HSBC eingereichte Beschwerde habe nicht versandt werden können, weil der Anwalt, der die Beschwerde eingereicht hatte, keine Anschrift hinterlassen habe, kaum glaubwürdig zu sein, bedenkt man den hohen Einsatz und die Professionalität der beteiligten Anwälte, von denen ich viele persönlich kennengelernt habe. Der Leugnung der Beteiligung eines bestimmten Beamten an der Prüfung von Beschwerden, in denen er selbst als einer der Beschuldigten erscheint, widerspricht eine lange Liste von Schreiben zu diesem Fall, die von eben jenem Beamten abgezeichnet wurde und von denen die Anwälte von Hermitage/HSBC mir Kopien zur Verfügung stellten. Die Antwort der Generalstaatsanwaltschaft, der entsprechende Beamte (ein Oberstleutnant) übe „keinerlei Aufsichtsfunktionen“ aus, hilft nicht weiter, und die Leugnung der Generalstaatsanwaltschaft, die Beschwerden von HSBC „vom 3. Dezember 2007, dem 27. Oktober 2008 oder von irgendeinem anderen Zeitpunkt“ nicht erhalten zu haben, wirft bei mir die Frage auf, ob irgendwann rein zufällig oder eben nicht die interne Kommunikation oder die Postzustellung zusammengebrochen ist. [146]

111.       Natürlich bin ich immer noch nicht in der Lage zu „beurteilen“, wer hier Recht oder Unrecht hat, und das ist ja auch nicht die Zielsetzung des vorliegenden Berichts. Angesichts der zahlreichen merkwürdigen Zufälligkeiten und Widersprüche, insbesondere im Hinblick auf die Chronologie der Ereignisse im Verhältnis zu den Abwehrmaßnahen von HSBC/Hermitage und den Vergeltungsmaßnahmen gegen seine Manager und Anwälte sowie schließlich im Lichte der Monate anhaltenden völligen Unfähigkeit der Justizbehörden, selbst bei derart groß angelegten Betrugsmanövern, zu deren Opfern auch der russische Staat selbst gehört, zu reagieren, kommt bei mir ganz einfach der Verdacht auf, dass dieser koordinierte Angriff die Unterstützung hoher Beamter gehabt haben muss. Diese scheinen sich für ihre eigenen Zwecke die anhaltenden systemischen Schwächen des Strafrechtssystems der Russischen Föderation zunutze zu machen.

112.       Meiner Ansicht nach ist eine sachgerechte Untersuchung in diesem geradezu symbolhaften Fall, bei der die Betrüger ebenso zur Rechenschaft gezogen werden wie die Polizeibeamten, die ihnen anscheinend geholfen haben, unverzichtbar. Das könnte im Übrigen auch ein guter Prüfstein für die neuen Strukturen sein, bei denen es um eine Trennung und Arbeitsteilung zwischen den Dienststellen der Generalstaatsanwaltschaft und denen des Ermittlungsausschusses geht, was Ermittlungen über vermutete Missbrauchsfälle von Bestandteilen einer Struktur, die von Mitgliedern der anderen begangen wurden, erleichtern sollte.

·      Andere Fälle vermuteter politischer Einmischung in strafrechtliche Verfahrensabläufe


113.      
Bei meinem Zusammentreffen mit Lew Ponomarjow [147] wurden mir mehrere weitere Fälle zur Kenntnis gebracht, bei denen eine politische Einmischung in den strafrechtlichen Prozess sehr wahrscheinlich zu sein scheint. Aus Platzgründen kann ich sie nur kurz ansprechen.

114.        Der Fall des Mordes an der Journalistin Anna Politkowskaja stellt dem Anwalt der Familie des Opfers zufolge ein Beispiel für die berufliche Unfähigkeit der Strafverfolgungsbehörden dar, die sich daran gewöhnt hatten, Verurteilungen praktisch nach Belieben zu erwirken, ohne in einem Fall sachgerecht ermitteln und dem Gericht überzeugende Beweise vorlegen zu müssen. Dieser Fall stellt den Anwälten zufolge ein Musterbeispiel für die mangelnde Unterstützung durch die Generalstaatsanwaltschaft vor Gericht dar, wenn es um von der Ermittlungskommission untersuchte Fälle geht, worin weithin eine schändliche Schmach für beide Einrichtungen gesehen wird. Bei der Suche nach den wirklichen Tätern und den Anstiftern der Straftat war wertvolle Zeit verloren gegangen. Die Anwälte der Verwandten des Opfers hatten fast jede Woche konkrete Ermittlungsmaßnahmen verlangt, um den Verlust von Beweismaterialiejn zu vermeiden, jedoch vergebens. Sie empfanden es außerdem als seltsam,, dass einer Angeklagten, der FSB-Oberst Rjagusow, nicht der Mittäterschaft an dem Mord, sondern nur der Weitergabe von Frau Politkowskajas Anschrift beschuldigt worden war. Es stellt sich die Frage, weshalb die Anklage gegen Herrn Rjagusow von der gegen die übrigen Beteiligten abgetrennt und dann ausgesetzt wurde, obwohl eindeutige Beweise gegen ihn sprachen. Ein wichtiger Sieg für die Anwälte beider Seiten war die öffentliche Durchführung des Prozesses, die ihrer Ansicht nach allen vor Augen führte, wie schlecht die Ermittlungsbehörden gearbeitet hatten. Die Anwälte befürchten nun, dass die wirklichen Verantwortlichen der Straftat, ganz zu schweigen von den Anstiftern und Organisatoren, nie ermittelt werden können.

115.       In ihren Antworten auf meine diesbezüglichen Fragen bestanden sowohl der Ermittlungsausschuss als auch die Generalstaatsanwaltschaft darauf, genügend Beweismaterial zusammengetragen zu haben, um die Angeklagten zu verurteilen und die Generalstaatsanwaltschaft betonte, sie habe ausreichende Beweise beisammen  und unterstrich, während der Gerichtsverhandlung (auch der Berufungsverhandlung) sei es ihr gesetzlich untersagt, weiter zu ermitteln, um ihre Position zusätzlich zu untermauern. Die Generalstaatsanwaltschaft empfand meine Frage darum als „überaus unangemessen“. Ich sehe dies anders: Ich hatte die Generalstaatsanwaltschaft nicht gefragt, was sie tue, um mehr Beweise gegen diejenigen zusammenzutragen, die zurzeit der Straftat beschuldigt werden (und die durchaus unschuldig sein könnten), sondern was sie unternehme, um den/die wirklichen Mörder und insbesondere die Anstifter und Organisatoren dieser Straftat zu finden.

116.       Als ehemalige Berichterstatterin über den Fall Gongadse in der Ukraine [148] kann ich den Anwälten der Familie des Opfers nur darin zustimmen, dass der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle spielt. Es wird Sache der Versammlung sein, auch diesem Fall weiterhin große Aufmerksamkeit zu schenken.

117.       Der Fall von Juri Samodurow, des Direktors des Sacharow-Museums, macht deutlich, wie der Missbrauch des Strafrechtssystems die Meinungsfreiheit bedrohen kann. Herr Samodurow war zuvor schon einmal wegen einer Kunstausstellung verurteilt worden, die von verärgerten orthodoxen Gläubigen verwüstet worden war, welche sich über einige der ausgestellten Kunstwerke empörten – wobei darauf hinzuweisen ist, dass der Veranstalter der Ausstellung, nicht die Wandalen, bestraft wurde. Eine neue Ausstellung des Sacharow-Museums mit dem Titel „Verbotene Kunst 2006“ zeigt Werke, die bis in die Sowjetzeit zurückreichen und religiöse Symbole als „antisowjetisch“ darstellen. Die Ausstellung im Sacharow-Zentrum verspottet die sowjetische Realität, indem sowjetische Symbole gezeigt werden, als würden sie „verehrt“ wie religiöse Symbole. Um jede Gefahr zu vermeiden, jemandes religiöse Empfindungen zu verletzen, wurden die Kunstwerke mit einer Mauer abgeschirmt und waren nur durch Löcher in dieser Mauer zu besichtigen, die nur durch Besteigen einer Leiter an einem Warnzeichen vorbei zu errreichen waren, eine meiner Meinung nach humorvolle Art und Weise, den uralten Spruch „volenti non fit inuria“ zu Herzen zu nehmen. Dennoch erklommen einige orthodoxe Gläubige die Treppen, blickten durch das Loch und fühlten sich „beleidigt“ und übten anschließend Druck auf die Staatsanwaltschaft aus, ein Verfahren gegen Herrn Samodurow einzuleiten. In dem neuen Prozess, der am 3. April 2009 begann, wird Herr Samodurow des „Extremismus“ beschuldigt, was bedeutet, dass er die Leitung des Sacharow-Museums aufgeben musste, um zu vermeiden, dass es bei einer Verurteilung geschlossen werden könnte. Die Höchststrafe liegt bei 5 Jahren Haft, und allein schon der Prozess hat einen Eishauch über die (künstlerische) Ausdrucksfreiheit wehen lassen.

118.       In seiner Erwiderung auf meine Fragen zu diesem Fall erklärte der Leiter der Ermittlungskommission,  dass „Bürger, die den überkommenen kulturellen Werten des russischen Volkes (anhingen) und insbesondere Anhänger des orthodoxen Glaubens oder Befürworter des orthodoxen Christentums sowie vor allem die Besucher der Ausstellung ein überaus schweres mentales Trauma erlitten (hätten), als sie die Ausstellungsstücke sahen, wodurch ihre persönliche Integrität und ihr bestehendes Weltbild direkt untergraben wurden, was ein traumatisches Ereignis und einen nachdrücklichen Stressfaktor darstelle, der ihnen moralisches Leiden und Stress sowie das Gefühle vermittelt habe, sie seien in ihrer persönlichen Würde erniedrigt worden”.

119.       Meiner Meinung nach ist die „Untergrabung des bestehenden Weltbilds“ geradezu ein Teil des Kunstbegriffs. Die Polizeibehörden der Russischen Föderation scheinen darin einen strafverschärfenden Faktor zu sehen, der die Kriminalisierung des künstlerischen Ausdrucks rechtfertigt. Als Reaktion auf den Aspekt „volenti non fit inuria“ meinte der Ermittlungsausschuss, die Veranstalter der Ausstellung hätten böswillig die menschliche Neugier ausgenutzt, da ihnen „klar war, dass die Besucher  durch die Öffnung in der Trennwand blicken würden nicht weil sei den Vorstellungen der Künstler und der Ausstellungsveranstalter zustimmten oder mit ihnen einverstanden waren, sondern einfach deshalb, weil sie in die Ausstellung gekommen waren, um erst einmal zu sehen, was ausgestellt wurde“.

120.       Der Hinweis der Generalstaatsanwaltschaft, der Grundsatz volenti non fit inuria bedeute nach russischem Recht keinen Grund, die Strafbarkeit einer Handlung auszuschließen.  Zwar gilt mit Sicherheit für alle Rechtssysteme, dass bestimmte gesetzlich geschützte Interessen (wie Leben und Gesundheit) nicht einmal zur Disposition der geschützten Personen selbst stehen, doch für andere Interessen gilt dies eindeutig nicht. Wenn ich einen Teil meines Vermögens abtrete, ist der Empfänger des Geschenks kein Dieb. Und wenn ich mich bewusst dafür entscheide, mich Kunstobjekten auszusetzen, die mich unter Umständen schockieren oder gar mein bestehendes Weltbild untergraben, kann ich mich nicht beklagen, wenn es genau dazu kommt.

121.       Die Fälle der beiden Wissenschaftler, Herr Sutjagin and Herr Danilow, die nach offensichtlich fehlerhaften Verfahren wegen Preisgabe von Staatsgeheimnissen zu langen Haftstrafen verurteilt wurden, waren Gegenstand von Christos Pourgourides’ Bericht über Fragen eines fairen Verfahrens in Spionagefällen. [149] Meine NRO-Gesprächspartner in Moskau drängten mich zu bedenken, dass die beiden Männer trotz des Appells der Versammlung, sie freizulassen, immer noch im Gefängnis sind und ihre Gesundheit sich rapide verschlechtert. Ich möchte den Aufruf der Versammlung bekräftigen, die beiden Männer baldmöglichst freizulassen aus justiziellen wie aus humanitären Gründen.

III.      Der Begriff der „politisch motivierten Missbräuche“ des Strafrechtssystems
und die Ergebnisse der vier Fact-finding-Besuche

122.       Der Begriff des „politisch motivierten Missbrauchs“ des Strafrechtssystems nimmt in diesem Bericht eine zentrale Stellung ein. Zwar ist klar, dass jede politisch motivierte Manipulation eines Strafverfahrens als Missbrauch zu werten ist, doch liegt die Schwierigkeit in der Feststellung der Manipulation als solcher (d.h. als Abweichung von dem normalen Verfahrensgang aufgrund eines Eingreifens von außen) sowie der „politischen“ Motivation einer solchen Motivation.

123.       Um über reine Spekulationen und Mutmaßungen hinauszukommen, werden objektive Kriterien und Angaben erarbeitet werden müssen, die uns Schlüsse auf das Vorliegen oder Fehlen politisch motivierter Missbräuche gestatten. Es folgen einige denkbare Kriterien oder Angaben.

i.        Diskriminierung

124.       Ein wichtiger Indikator für das Vorliegen eines politisch motivierten Missbrauchs kann darin bestehen, dass eine bestimmte Person (politischer Gegner, Konkurrent) deutlich härter herangenommen wird als andere, die sich ähnlich verhalten haben. Die Härte der Behandlung kann im Ergebnis zum Ausdruck kommen, d.h. der von dem Gericht verhängten Strafe oder dem Verfahren selbst, also der (Dauer der) Untersuchungshaft, der (fehlenden) Wahrung der Rechte der Verteidigung, Druck auf die Strafverteidiger oder sogar beides.

125.       Beispiele für eine solche Diskriminierung (nicht gerechtfertigte unterschiedliche Behandlung) gibt es leider in den von mir betrachteten Fällen in der Russischen Föderation im Übermaß: Das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden, das ich in meinem vorigen Bericht über die Anklage ehemaliger leitender Jukos-Manager beschrieben hatte, [150] setzt sich bei dem neuen Prozess gegen Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew fort [151]: Keinem anderen Ölmanager in der Russischen Föderation wird vorgeworfen, das gesamte von seinem Unternehmen geförderte Öl unterschlagen und die Verkaufserlöse „gewaschen“ zu haben, indem er die gleiche vertikal integrierte Geschäftsstruktur nutzte, die in der Branche der Standard ist. Der harte Umgang mit der für die Rechtsabteilung von Jukos arbeitenden jungen Mutter, Frau Bachmina [152], und dem sterbenskranken Anwalt Herr Aleksanjan [153], wobei in dem letzteren Fall sogar mehrere Verfügungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte missachtet wurden, geht über die normale Praxis der Rechtsanwendung bei weitem hinaus. Der Fall von Herrn Pitschugin, der zuerst zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde und dann lebenslänglich bekam, nachdem das erste Urteil im Anschluss an seinen Einspruch wegen schwerer Ermittlungsfehler und eines falsch geführten Gerichtsverfahrens aufgehoben worden war, gehört auch in diese Kategorie. [154] Alle mit Jukos verbundenen Rechtssachen sind auch durch die übermäßige Länge der Verfahren und der Untersuchungshaft sowie die systematische Einschüchterung und Strafverfolgung der Anwälte und Menschenrechtsakitivisten gekennzeichnet, die es wagen, sich den Behörden in den Weg zu stellen. [155]

126.       Die Drangsalierung der Manager und Anwälte von HSBC/Hermitage[156] liefert weitere Beispiele. Die lange Untersuchungshaft unter entsetzlichen Haftbedingungen eines führenden selbständigen Anwalts, Herrn Magnizkeis, und die Einleitung eines Strafverfahrens gegen zwei weitere, Herrn Chareytdinow und Herrn Pastuchow –, die beide der Verwendung falscher Vollmachten zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit für HSBC/Hermitage sowie der Ablehnung der „Autorität“ der neuen Vorstandsmitglieder angeklagt wurden, die von denen ernannt wurden, gegen die sie Strafanzeige wegen „Diebstahls“ der betreffenden Firmen erstattet hatten, sprechen für sich selbst.

127.       In den drei anderen von mir besuchten Staaten konnte ich keinerlei vergleichbaren Missbrauch feststellen.

ii.       Öffentliche Erklärungen hochgestellter Vertreter der Ex ekutive zur Schuld der Angeklagten

128.       Diese Methode der Beeinflussung eines laufenden Strafverfahrens ist recht grobschlächtig und leicht durchschaubar, wird aber immer noch überraschend oft angewandt.

129.       Mehrere entsprechende Beipiele enthält der Bericht von Christos Pourgourides über Fragen eines fairen Verfahrens in mit der Verletzung von Staatsgeheimnissen oder Spionage verbundenen Fällen. [157] Die Strafverfolgung von Richter xxx (Name unverständlich, Anm.d.Üb.) ist ein weiteres eklatantes Beispiel [158].

iii.      Unzureichend spezifizierte oder sich ständig ändernde Anklagepunkte

130.       Unklar formulierte Anklagepunkte, entweder im Hinblick auf die rechtliche Einstufung der Straftat, der jemand beschuldigt wird oder auf die Handlungen oder sonstigen Sachverhalte, die jemand sich angeblich hat zu schulden kommen lassen wie auch sich häufig ändernde Anklagepunkte nachdem die ursprünglichen Tatvorwürfe sich als unhaltbar erwiesen haben sind typische Hinweise auf Beweggründe der Strafverfolger, die über die neutrale Durchsetzung des Strafrechts hinausgehen.

131.       Rudolf Bindigs Bericht über den Fall des Umwelt-Whistleblowers Grigori Pasko [159] trifft darauf genauso zu wie die Fälle Sutjagin, Danilow, Trepaschkin und Moisejew in Herrn Pourgourides Bericht über „Fair trial issues in cases involving espionage and violations of state secrecy”. [160]

132.       Die neuen Anklagen gegen Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew sind außerdem unzureichend spezifiziert: Ungeachtet der ständigen Ermahnungen der Verteidigung hat die Staatsanwaltschaft es bisher versäumt darzulegen, welche Tatbestände sie mit welchen Beweisen zu belegen gedenkt und was dies für die strafrechtliche Haftung bedeuten soll. Die Behauptung, Herr Chodorkowski und Herr Lebedew hätten während eines bestimmten Zeitraums das gesamte von Jukos geförderte Öl unterschlagen und die Einstufung gewaltiger Mengen an Firmenunterlagen als „Beweismaterial“ scheinen nicht auszureichen. Die neuen Anklagepunkte, bei denen es im Wesentlichen um die gleichen Geschäftsvorgänge wie im ersten Prozess zu handeln scheint, dürften ebenfalls, wie es aussieht, eine beträchtliche Veränderung in der rechtlichen Bewertung durch die Staatsanwaltschaft zeigen, – von Steuerhinterziehung bei ansonsten legalen Ölverkäufen zur Veruntreuung eben dieses Öls. Darüber hinaus scheint die Staatsanwaltschaft bedacht zu sein, zwei scheinbar widersprüchliche und sich gegenseitig ausschließende Bewertungen kumulieren zu wollen, im Bemühen, die Angeklagten über die Zeit hinaus, zu der sie ohnehin wegen der behaupteten Steuerhinterziehung verurteilt worden sind, in Haft zu belassen.

iv.      Mangelnde Unabhängigkeit des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft

133.       Während spezifische Weisungen (der berüchtigte „Telefonanruf“) in einzelnen Fällen schwer nachzuweisen sind, ergeben sich bei einem Vergleich der Rechtssysteme bestimmte strukturelle Probleme des Strafrechtssystems wegen unzureichender Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte.  Ein solches Fehlen der Unabhängigkeit ist in einzelnen Fällen eine notwendige, wenn auch nicht ausreichende Voraussetzung für politisch motivierten Missbrauch in einzelnen Fällen.

134.       Der Vergleich zwischen dem britischen, dem französischen, dem deutschen und dem russischen Modell hat mehrere Schlussfolgerungen ergeben.

135.       Zuerst einmal ist die tatsächliche Unabhängigkeit nicht nur durch die rechtlichen und administrativen Strukturen bedingt, sondern auch in wirklich hohem Maße durch die Persönlichkeit der einzelnen Richter und Staatsanwälte auf allen Ebenen sowie durch ihre persönliche Statur, ihren Mut und ihre Entschlossenheit, jede Art politisch motivierter Einmischung abzuwehren. So hat das Vereinigte Königreich  gerade eben erst ein unabhängiges justizielles Ernennungsgremium geschaffen, während Deutschland auch wenn ich zurzeit einige Verbesserungen vorschlage – bisher nur für die Ernennung der höchsten  Bundesrichter über einen solchen Mechanismus verfügt. Dennoch ist das von der öffentlichen Meinung mitgetragene „Klima“ der Unabhängigkeit der Richterschaft in beiden Ländern sehr solide ebenso auch in Frankreich. In der Russische Föderation scheinen demgegenüber alle notwendigen gesetzlichen Strukturen vorhanden zu sein, nur habe ich angesichts der weiter oben besprochenen Fälle [161] den Eindruck, dass Richter immer noch recht starkem Druck ausgesetzt sind, der ihre Unabhängigkeit bei Entscheidungen in einzelnen Fällen in Frage stellt und zur Aufrechterhaltung einer Arbeitsatmosphäre beiträgt, die mit einer ständigen „Probezeit“ verglichen werden könnte, da die Laufbahnentwicklung der Riichter und sogar ihre Weiterbeschäftigung davon abhängen, dass sie „wie erwartet funktionieren“. Wenn Strafverfahren fast immer zur Verurteilung führen müssen, wie es in der Russische Föderation nach wie vor der Fall ist, unterliegt die Machtfülle der Staatsanwälte die eine weitaus geringere Unabhängigkeit von politischen Stellen genießen , Menschen hinter Schloss und Riegel zu bringen, fast gar keiner Kontrolle.

136.       In Frankreich ist das Gleichgewicht zwischen um jeden Preis auf ihre Unabhängigkeit bedachten Richtern, in eine strenge Hierarchie eingebundenen Staatsanwälten und Verteidigern, die in der Ermittlungsphase eine sehr begrenzte Rolle spielen, stark gefährdet. Mich beeindruckte zwar die Statur der mit mir zusammengetroffenen Staatsanwälte wie auch ihr esprit de corps als integrierender Bestandteil eines unabhängigen Strafrechtssystems, doch könnte es sich wirklich als notwendig erweisen, die Unabhängigkeit der Strafverfolger im Rahmen des allgemeinen Reformpakets zu stärken, das zurzeit ausgearbeitet wird und demzufolge wichtige Funktionen, die gegenwärtig vom dem juge d’instruction wahrgenommen werden, der Staatsanwaltschaft übertragen werden können. Ein ebenso wichtiger Teil dieses Pakets sollte die Stärkung der Rolle der Verteidiger sein, indem diese in der Ermittlungsphase mehr Aktenzugang erhalten und mehr Mittel für Prozesskostenhilfe bereitgestellt werden. Diesen Weg hat Deutschland eingeschlagen, als mehr kontradiktorische Elemente in das Strafverfahren eingeführt wurden auch wenn die begrenzten Mittel für Prozesskostenhilfe immer noch ein ungelöstes Problem darstellen.

IV.     Folgen für die Umsetzung der Übereinkommen des Europarats
betreffend gegenseitige Rechtshilfe bei Auslieferungen

137.       Wie schon in der Entschließung zu diesem Bericht erwähnt wurde, erfordert die justizielle Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten des Europarats, auch in Fragen der Auslieferung, der Beweisverfahren usw., wie dies in den einschlägigen Europaratsübereinkommen vorgesehen ist, ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen. Eine effektive Zusammenarbeit setzt das Bestehen eines vergleichbaren Maßes an rechtlichen Garantien der Unabhängigkeit und der Professionalität in allen beteiligten Staaten voraus.

138.       Die Konventionen über gegenseitige Rechtshilfe oder Auslieferung legen fest, dass die Hilfe zu verweigern ist, wenn die zugrundeliegende Strafverfolgung dazu dienen soll, jemanden wegen seiner „Rasse, Religion, Nationalität oder politschen Ansichten zu bestrafen oder dass die Stellung der betreffenden Person aus einem dieser Gründe gefährdet sein kann.[ 162]

139.       Wie wir bei in diesem Bericht geprüften konkreten Beispielen gesehen haben, geht es nicht um eine rein hypothetische Möglichkeit. Ich bin überzeugt, dass es in solchen Fällen, wenn es sich zum Beispiel um derzeitige und frühere Mitarbeiter und Anwälte, die für Jukos oder HSBC/Hermitage tätig waren, dreht, es falsch wäre, jemanden auszuliefern, der das Land rechtzeitig verlassen konnte. Ich habe großen Respekt für Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew, die es ablehnten, die Russische Föderation zu verlassen, als sie dies noch gekonnt hätten und die sich bereit fanden, sich einem Verfahren zu stellen, um ihre Unschuld zu beweisen, ungeachtet der ihnen bewussten Gefahr einer unfairen Behandlung. Ein solcher Mut und eine derartige Opferbereitschaft können allerdings nicht von jedem erwartet werden.

140.       Das Forum für die Erörterung der Frage, ob es einen Grund zur Verweigerung iunternationaler Zusammenarbeit gibt, sind Gerichte außerhalb des Staates, in dem die behauptete Manipulation des Strafrechtssystems stattgefunden haben soll. Zwar gehen die Mitgliedstaaten zuerst einmal davon aus, dass die Signatarstaaten der Konvention nach deren Bedingungen in gutem Glauben gehandelt haben, doch zeigt allein schon das Bestehen von Ausschlussklauseln wie der oben zitierten, dass diese Annahme widerlegbar ist.

141.       Im Laufe der letzten Jahre haben es Gerichte in vielen Mitgliedstaaten des Europarats abgelehnt, Personen auszuliefern, die von den russischen Behörden gesucht wurden – neben zahlreichen mit Jukos verbundenen Fällen [163] bestanden auch bei Flüchtlingen aus Tschetschenien Zweifel – die nach meiner Meinung nach wie vor sehr begründet sind –, was die Fairness ihrer in der Russischen Föderation vorgesehenen Prozesse angeht. Die sehr reale Möglichkeit, dass eine bestimmte Anzahl schwerer Verbrechen schuldiger Personen ihrer gerechten Strafe entkommen können, weil westliche Gerichte weiterhin dem russischen Strafrechtssystem misstrauen, [164] sollte einen starken Anreiz dafür abgeben sicherzustellen, dass die diesem Misstrauen zugrundeliegenden Ursachen durch einen echten „Klimawandel“ in der gesamten russischen Judikative beseitigt werden nicht durch die Errichtung „Potemkinscher Dörfer“, in denen Gestalt und Form europäischer Standards richterlicher Unabhängigkeit imitiert werden, wie die Venedig-Kommission dies auf unser Ersuchen treffend zusammengefasst hatte, [165] ohne jedoch deren Geist umzusetzen.

142.       Die einschlägigen Konventionen des Europarats reichen in eine Zeit zurück, in der die politischen und justiziellen Systeme der Mitgliedstaaten weitaus gleichförmiger waren. Hier mag eine Aktualisierung erforderlich sein, um zu gewährleisten, dass sie unter den heutigen Vehältnissen noch effektiv sind. Das gilt auch für die bestehenden Europol- und Interpol-Mechanismen, die möglicherweise überarbeitet werden müssen, um zu gewährleisten, dass sie nicht für politisch motivierte Verfolgungen missbraucht werden können.

V.      Schlussfolgerungen

143.   Meine Schlussfolgerungen werden in dem Text der Entschließungsentwurfs (obiger Teil A) zusammen­gefasst. Der Text beginnt mit einer eindeutigen Verurteilung aller politisch motivierten Missbräuche des Strafrechtssystems und legt anschließend dar, dass in der richterlichen Unabhängigkeit der Schlüssel zur Verhinderung einer unangemessenen Einflussnahme liegt. Der an alle Mitgliedstaaten gerichtete Text erinnert an die einschlägigen europäischen Standards, wie die Venedig-Kommission sie vorgelegt hat. Danach fasst der Entschließungsentwurf die Lage in den vier als Beispiele ausgewählten Staaten (Vereinigtes Königreich, Frankreich, Deutschland und Russische Föderation) zusammen und richtet spezifische Empfehlungen an diese Länder, um die festgestellten Unzulänglichkeiten zu beseitigen. Abschließend geht der Entschließungsentwurf auf Empfehlungen an andere Organe des Europarats sowie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein, um politisch motivierten Missbräuchen des Strafrechtssystems vorzubeugen und die Unabhängigkeit des Justizwesens zu steigern.

Berichtender Ausschuss: Ausschuss für Recht und Menschenrechte

Ausschussreferenz: Dok 11404, Referenz-Nr. 3385 vom 23. November 2007

Entschließungsentwurf im Ausschuss am 23. Juni 2009 einstimmig angenommen

Ausschussmitglieder: Frau Herta Däubler-Gmelin (Vorsitzende), Herr Christos Pourgourides, Herr Pietro Marcenaro, Herr Rafael Huseynov (stellvertretender Vorsitzender), Herr José Luis Arnaut, Frau Meritxell Batet Lamaña, Frau Marie-Louise Bemelmans-Videc, Frau Anna Benaki (Stellvertreter: Herr Emmanouil Kefaloyiannis), Herr Petru Călian, Herr Erol Aslan Cebeci, Frau Ingrīda Circene, Frau Ann Clwyd, Frau Alma Čolo, Herr Joe Costello, Frau Lydie Err, Herr Renato Farina, Herr Valeriy Fedorov, Herr Joseph Fenech Adami (alternate: Frau Marie-Louise Coleiro Preca), Frau Mirjana Ferić-Vac, Herr György Frunda, Herr Jean-Charles Gardetto, Herr Jószef Gedei, Frau Swetlana Gorjatschowa, Frau Carina Hägg, Herr Holger Haibach, Frau Gultakin Hajibayli, Herr Serhiy Holovaty, Herr Johannes Hübner, Herr Michel Hunault, Frau Fatme Ilyaz, Herr Kastriot Islami, Herr Želiko Ivanji, Frau Iglica Ivanova, Frau Kateřina Jacques, Herr András Kelemen, Frau Kateřina Konečná, Herr Franz Eduard Kühnel, Frau Darja Lavtižar-Bebler, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Herr Aleksei Lotman, Herr Humfrey Malins, Herr Andrija Mandic, Herr Alberto Martins, Herr Dick Marty, Frau Ermira Mehmeti, Herr Morten Messerschmidt, Herr Akaki Minaschwili (Stellvertreterin: Frau Chiora Taktakischwili), Herr Philippe Monfils, Herr Alejandro Muñoz Alonso, Herr Felix Müri, Herr Philippe Nachbar, Herr Adrian Năstase (Stellvertreter: Herr Tudor Panţiru), Frau Steinunn Valdís Óskarsdóttir, Frau Elsa Papadimitriou, Herr Waleri Parfenow, Herr Peter Pelegrini, Frau Maria Postoico, Frau Marietta de Pourbaix-Lundin, Herr Valeriy Pysarenko (Stellvertreter: Herr Hryhoriy Omelchenko), Herr Janusz Rachoń, Frau Marie-Line Reynaud, Herr François Rochebloine, Herr Paul Rowen, Herr Armen Rustamyan, Herr Kimmo Sasi, Herr Fiorenzo Stolfi, Herr Christoph Strässer, Lord John Tomlinson, Herr Tuğrul Türkeş, Frau Özlem Türköne, Herr Wiktor Tychonow (Stellvertreter: Herr Ivan Popescu), Herr Øyvind Vaksdal, Herr Giuseppe Valentino, Herr Hugo Vandenberghe, Herr Egidijus Vareikis, Herr Luigi VItali, Herr Klaas de Vries, Frau Nataša Vučković, Herr Dimitry Vyatkin, Frau Renate Wohlwend, Herr Jordi Xuclà i Costa


N.B.: Die Namen der bei der Sitzung anwesenden Mitglieder sind halbfett wiedergegeben.

Ausschusssekretariat: Herr Drzemczewski, Herr Schirmer, Frau Heurtin



[1] AS/Jur (2008) 31.

[2] Siehe z.B. A. Sanders und R. Young, Criminal Justice, 3. Aufl., 2007, S. 11.

[3]  Siehe J. Hatchard, B. Huber und R. Vogler, Comparative Criminal Procedure, 1996.

[4]  Neben England und Wales geht es hierbei im Wesentlichen um Zypern, Irland, Malta, Nordirland und Schottland (wobei die beiden letzteren innerhalb des Vereinigten Königreichs über zwei eigene Gerichtssysteme verfügen).

[5]  The Code for Crown Prosecutors, Crown Prosecution Service, November 2004, verfügbar unter: www.cps.gov.United Kingdom

[6]  Judicial Appointments Commission, Annual Report and Accounts 2007/08, Selecting on Merit and Encouraging Diversity, The Stationary Office, 10. Juli 2008 (S. 3).

[7]  Siehe Dok. 11767 (2009 ) (Berichterstatter: Herr Christopher Chope, Vereinigtes Königreich, EDG).

[8]  Unterhaus, Verfassungsausschuss, Verfassungsmäßige Rolle des Attorney General, Fünfter Bericht der Periode 2006-07, Bericht zusammen mit dem förmlichen Protokoll sowie mündlichen und schriftlihen Belegen, 17. Juli 2007.

[9]  Ibid., S. 3.

[11] http://www.telegraph.co.UK/news/UKnews/1535683/Halt-inquiry-or-we-cancel Eurofighters.html

[15] R (on the application of Corner House Research and others) v Director of the Serious Fraud Office [2008] EWHC 714 (Admin).

[21] The Government’s response to the Constitutional Affairs Select Committee Report on the Constitutional Role of the Attorney General, presented to Parliament by the Attorney General, April 2008.

[22] Antwort der Regierung (Ziffer 21), S. 3.

[23] Antwort der Regierung (Ziffer 21), S. 5-6.

[24] Siehe die obigen Ziffern 16 ff.

[25] Siehe außerdem J.-Y. McKee, France, 2001 unter: http://www.heuni.fi/12543.htm

[26] Der ehemalige Justizminister Robert Badinter hat das Bonmot geprägt, der juge d’instruction vereinige in sich die Funktionen von Maigret und Salomo.

[27] Artikel 30 ff.

[28] Verordnung Nr. 58-1270 v. 22. Dezember 1958 portant loi organique relative au statut de la magistrature, version consolidée au 9 décembre 2007 (insbesondere die Artikel 5, 48, 59, 65 und 66).

[29] Das ist der Kern des traditionellen französischen Spruchs „la plume est serve, mais la parole est libre“ (die Feder dient, doch das Wort ist frei).

[31] Kapitel IV der Verfassung (Anmerkung 30).

[32] Kapitel VIII der Verfassung (Anmerkung 30).

[33] Sowohl die Union Syndicale de la Magistrature (USM), die rund zwei Drittel der Richter und Staatsanwälte vertritt als auch das kleinere, sozialistisch orientierte Syndicat de la Magistrature (SM) verwenden eine sehr harte Sprache wie mise au pas (Gleichschaltung) oder caporalisation (Militarisierung), mit denen normalerweise ein militärischer Kadavergehorsam beschrieben wird. Ein oft zitiertes Beispiel sind die Staatsanwälte am Gericht in Nantes, die von ihrem Generalstaatsanwalt vorgeladen wurden, um zu erläutern, weshalb sie bei der Rede der Gerichtspräsidentin während der öffentlichen Zeremonie zur Eröffnung des Gerichtsjahrs applaudiert hatten, bei der die Präsidentin die Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit hervorgehoben hatte. Ebenso wurden angeblich auch regionale Generalstaatsanwälte zu Erklärungen darüber aufgefordert, weshalb die Urteile in ihrem Gerichtsbezirk bei der Anwendung der Mindeststrafen (peines plancher) für Wiederholungstäter, wie das Gesetz vom 10. August 2007 sie eingeführt hatte, unter den Vorgaben geblieben waren.

[34] Am 20. Februar 2008 legte Jean-Marie Coulon der Justizministerin einen detaillierten Bericht zu diesem Thema vor http://www.ladocumentationfrancaise.fr/rapports-publics/084000090/index.shtml

[35] Reuters, 4. September 2007, 12h12 zitiert die Fernseherklärung der Justizministerin wie folgt: „Die Gerichte sind bei ihren Urteilen unabhängig (…), aber ich verfüge über Befugnisse im Hinblick auf die Anwendung der Gesetze und die Strafrechtspolitik. Ich stehe an der Spitze der Strafverfolgung. Was heißt das? Ich bin die Vorgesetzte der Staatsanwälte, die dazu da sind, die Gesetze und eine Strafrechtspolitik anzuwenden. (…) Die oberste Legitimität liegt bei den Franzosen, die [Nicolas Sarkozy] wählten, um die Autorität wiederherzustellen. Richter und Staatsanwälte sprechen Recht im Namen dieser obersten Legitimität.” (Nichtoffizielle Übersetzung)

[36] Bei einer Meinungsumfrage im Auftrag des CSM zur Erfassung des Vertrauens der Öffentlichkeit in das Gerichtswesen waren 51% der Ansicht, die Gerichte seien nicht von der Politik unabhängig. Die Judikative steht beim Vertrauen der Öffentlichkeit (hinter den Krankenhäusern, den Schulen, der Armee, der Polizeit und der Beamtenschaft) an sechster Stelle (siehe „’le sondage qui juge les juges“),
 http://blog.france2.fr/justice-dominique-verdeilhan/index.php/2008/10/22/83383-le-sondage-qui-juge-les-juges;

[37] Zum Beispiel die Ermittlungsrichter Eva Joly (Elf, Fall der taiwanesischen Fregatten; siehe La Force qui nous manque, éditions Les Arènes, 2007) und ihren Artikel in Le Monde vom 15. Januar 2009, in dem sie sich gegen den Reformvorschlag zur Abschaffung der Funktion des Untersuchungsrichters ausspricht), Renaud van Ruymbeke (Fall Clearstream; siehe Fabrice Lhomme, Renaud Van Ruymbeke, le juge, Editions Privé, 2007) Eric Halphen (Sozialwohnungsfälle in Paris und den Hauts-de-Seine; siehe Sept ans de solitude, Essay, Editions Gallimard).

[38] Siehe Florence Samson, Outreau et après, la justice bousculée par la commission d'enquête parlementaire, l'Harmattan, 2006 ; Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses unter http://www.assemblee-nationale.fr/12/rap-enq/r3125-t1.asp

[39] € 3 020 104 244 (Quelle: 2008 Report on the European Judicial Systems, European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ), Dokument CM(2008) 127 Addendum 2 vom 1. September 2008).

[40] € 3 350 000 000 (darunter € 303 000 000 für Prozesskostenhilfe).

[41] Die oben erwähnte (Anmerkung 39) vergleichende Studie der CEPEJ macht deutlich, dass die den französischen Gerichten zur Verfügung stehenden Mittel in der Tat mit die niedrigsten in den Mitgliedstaaten des Europarats sind, bedenkt man die Zahl der Richter und Staatsanwälte auf 100 000 Einwohner, das Assistenzpersonal je Richter und Staatsanwalt, die Prozesskostenhilfe und nicht zuletzt auch die Bezüge der Richter und Staatsanwälte in Prozent des Durchschnitts­einkommens des betreffenden Landes.

[42] Der über den Schutz der Freiheitsrechte und die Ingewahrsamnahme entscheidende Richter.

[43] Gesetz Nr. 2000-516 vom 15. Juni 2000 zur Stärkung der Unschuldsvermutung und der Rechte der Opfer.

[44] Siehe die Mitteilung des Büros der USM vom 7. Januar 2009.

[45] Siehe die Anwaltskammer von Lyon, «Faut-il supprimer le juge d'instruction? Le Barreau de Lyon réagit à la proposition du Président de la République visant à supprimer la fonction du Juge d'Instruction», unter : http://www.barreaulyon.com/fr/Le-Barreau-de-Lyon/Actualites/Faut-il-supprimer-le-juge-d-instruction;

[46] Siehe die obige Ziffer 41.

[47] Siehe den Zwischenbericht vom 6. März 2009, 4. Vorschlag: guarantee and strengthen the rights of the victim and of the suspect throughout the investigation, und 5. Vorschlag: strengthen the respect for individual rights and freedoms during the preparatory phase of the criminal proceedings.

[48] USM/SM/AFMI, Paris, 9. März 2009, Pressemitteilung: «Pré-rapport Léger: une claire menace pour l’indépendance sans véritable avancée pour les droits de la défense» (Vorbericht Léger: eine klare Bedrohung der Unabhängigkeit ohne wirkliche Fortschritte bei den Rechten der Verteidigung).

[49] Die Etats Généraux (Generalstände) werden von verschiedenen Berufsverbänden organisiert, die Richter, Staatsanwälte, Polizeibeamte, Anwälte, Juristen an Universitäten und Parlamentarier vertreten. Auf einer für Ende Juni 2009 vorgesehenen weiteren Plenartagung werden die Ergebnisse der nationalen Anhörungen erörtert werden.

[50] Ein Beispiel, das die Richterschaft besonders verärgert hat, ist der Fall von Bernard Blais, dem Generalstaatsanwalt am Appellationsgericht von Agen, der stark unter Druck gesetzt wurde, acht Monate vor seiner Pensionierung seine Versetzung zu beantragen. Die Justizministerin rechtfertigte ihr Vorgehen mit der Notwendigkeit, Stellen für Frauen freizumachen, um auf der Ebene der Generalstaatsanwaltschaften für Gleichheit zu sorgen. Alle 21 Richter und Staatsanwälte des Appellationsgerichts Agen beschlossen einen Antrag zur Unterstützung von Herrn Blais und erklärten, die „absurde“ Entscheidung verdeutliche „den Willen der politischen Stellen, die Staatsanwaltschaft zu schwächen, um  eine justizielle Institution unter ihre Kontrolle zu bringen, deren Unabhängigkeit stört“. (Herr Blais selbst gelangte in einem offenen Brief vom 13. Dezember 2007 wie auch die beiden wichtigsten Richterverbände USM und SM in einem außergewöhnlichen gemeinsamen Kommuniqué [Reuters, 4. Oktober 2007] zu der gleichen Schlussfolgerung). Der CSM gab eine negative Stellungnahme ab, doch die Ministerin gab sofort bekannt, sie werde dem keine Rechnung tragen [AFP, 30. Oktober 2007].

[51] Gesetz vom 23. Juli 2008 zur Änderung der Verfassung; ein loi organique (Verfassungsergänzungsgesetz), in dem die Änderungen detaillierter dargestellt werden, lag bei der Abfassung dieses Berichts noch nicht vor.

[52] Fünf Richter und ein Staatsanwalt, die sich mit richterlichen Angelegenheiten befassen und umgekehrt staatsanwaltliche Fragen behandeln.

[53] Der CSM tritt für Parität ein, wie mir mein CSM-Gesprächspartner Jean-Michel Bruntz mitteilte. Die Berufsverbände befürworten eine Mehrheit von Richtern und Staatsanwälten; siehe z.B. USM Flash Info Nr. 379 vom 10. März 2008.

[54] Siehe die Empfehlung R 94-12 des Ministerkomitees des Europarats vom 13. Oktober 1994; Europäische Charta über die Rechtsstellung der Richterinnen und Richter (Juli 1998); Stellungnahme Nr. 10 des Beirats Europäischer Richter beim Ministerkomitee des Europarats (November 2007).

[55] Verwaltungsgerichte: 8 Richter, 2 Vertreter des Staates und 3 von dem Staatspräsidenten und den Präsidenten der beiden Häuser des Parlaments ernannte Laienmitglieder (Artikel L 232-2 des Verwaltungsgesetzbuchs); Rechnungs­hof: 14 Richter und 3 von den politischen Stellen ernannte Laienmitglieder (Artikel L112-8 des Code des Juridictions Financières Finanzgerichtsbarkeitsordnung).

[56] Studie Nr. 494/2008, CDL(2009)055, Draft report on the independence of the judicial system: Part I: the independence of judges, approved by the Sub-Commission on the Judiciary in Venice on 12 March 2009 and debated at the June 2009 Plenary Session, on the basis of comments von Herrn G. Neppi Modona (Italien), Frau A. Nussberger (Deutschland), Herrn H. Torfason (Island) und Herrn W. Sorkin (Russland); im Folgenden zitiert als: Studie der Venedig-Kommission.

[57] Der Europäische Gerichtshof für human rightsMenschenrechte lehnte es in Medwedjew et al. gegen Frankreich (Nr. 3394/03, Urteil vom 10. Juli 2008, Ziffer 61) ab, die französische Staatsanwaltschaft als “justizielle Einrichtung” anzuerkennen, da es ihr an der Unabhängigkeit von den Exekutivbehörden fehle, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs für eine solche Einstufung erforderlich sei.

[58] Siehe die Ziffern 40 ff.

[59] §§ 146 und 147 Gerichtsverfassungsgesetz.

[60] Festgelegt in § 152 StPO (Strafprozessordnung).

[61] Strafvereitelung im Amt, § 258a StGB (Strafgesetzbuch).

[62] Es heißt, es dürfe keinen „ministerialfreien Raum“ geben.

[63] Während meiner Amtszeit als Justizministerin habe ich diese Möglichkeit nie in Anspruch genommen.

[64] Siehe den von dem Deutschen Richterbund vorgeschlagenen Gesetzentwurf zur Änderung von Titel 10 des Gerichtsverfassungsgesetzes, § 47 Abs. 3 sowie den erläuternden Bericht (S. 9-11), verfügbar (in deutscher Sprache) auf der Website des DRiB.

[65] Der Amtsermittlungsgrundsatz ist in den §§ 160 und 244 II StPO niedergelegt.

[66] Der oben erwähnten CEPEJ-Studie zufolge (Ziffer 39) wandte Deutschland € 557 Mio. an Prozesskostenhilfe auf, im Vergleich mit € 303 Mio. in Frankreich und € 3 Mrd.  in England und Wales.

[67] Siehe das „Zwei-Säulen-Modell“, das der Deutsche Richterbund in seiner Entschließung vom 27. April 2007 befürwortete und auf seiner Website unter http://www.drb.de/cms/fileadmin/docs/sv_modell_070427.pdf darstellt.

[68] Zu der deutschen Delegation gehört mittlerweile auch ein Vertreter des Deutschen Richterbunds.

[69] Auf einer Tagung am 11. Mai 2009 in Berlin über das Thema „Die Justiz braucht starke Gerichte“, die gemeinsam von der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Deutschen Richterbund und dem Bundesjustizministerium organisiert wurde (verfügbar auf der Website des Bundesjustizministeriums, http://www.bmj).

[70] Neben meinen ständigen Kontakten mit der deutschen Richterschaft habe ich im Hinblick auf die Erarbeitung des vorliegenden Berichts am 11. Juni 2009 in Berlin besondere Treffen mit dem Vorsitzenden des Verbandes deutscher Richter und Staatsanwälte, Herrn Christoph Frank, mit Dr. Heide Sandkuhl, Mitglied des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins (DAV), Dr. Hans-Holger Herrnfeld, Abteilungsleiter für internationales Strafrecht, europäische und multilaterale Zusammenarbeit im Bundesjustizministerium sowie mit Frau Sabine Hilgendorf-Schmidt, Leiterin der Abteilung für die Rechtsstellung, Vergütung und Fortbildung von Richtern im Bundesjustizministerium, geführt.

[71] Christos Pourgourides teilte mir mit, er habe diesen Standpunkt im Namen der Versammlung auf der Sitzung der Venedig-Kommission vom 12. Juni 2009 nachdrücklich vorgetragen, bei der es um die Annahme der Stellungnahme  zu europäischen Standards für die Unabhängigkeit der Gerichte ging und die unser Ausschuss in Verbindung mit der Erarbeitung des vorliegenden Berichts angefordert hatte.

[72] Siehe die obige Ziffer 14.

[73] Die Praxis der „Deals“ (das gleiche Wort wird auch im Deutschen verwendet) hat sich informell herausgebildet. Der föderale Gesetzgeber hat vor kurzem versucht, diese Praxis zu regulieren und bestimmte Grenzen einzuführen.

[74]Siehe die für das World Factbook of Criminal Justice Systems erstellten Länderberichte
(
http://ojp.usdoj.gov/bjs/pub/ascii)sowie M. Joutsen, R. Lahti und P. Pölönen, Finland,
D. Spinellis und C.D. Spinellis,Greece, A. Manna und E. Infante, Italy, P.J.P. Tak, The Netherlands,
J. Martin-Canivell, Spain und B. Svensson,
Sweden (alle National Criminal Justice Profiles sind bei HEUNI erschienen).

[75] Siehe außerdem M. Joutsen, Albania, B. Tankov, Bulgaria, Karabec, Dibilová und Zeman, Czech Republic, Horvatic und Derencinovic, Croatia, G. Svedas, Lithuania, A. Viasceanu und A. Dorobant, Romania sowie K.G. Sugman, M. Jager, N. Persak und K. Filipcic, Slovenia (alle National Criminal Justice Profiles sind bei HEUNI erschienen).

[76] Siehe zum Beispiel R.J. Terrill, World Criminal Justice Systems A Survey, 5th ed., 2003 und W.J. Wagner, „The Russian Judicature Act of 1922 and Some Comments on the Administration of Justice in the Soviet Union“, (1966) 41 Indiana LJ 420.

[77] Ich hörte das Bonmot, im Sowjetsystem habe der Generalstaatsanwalt nur das Politbüro über sich gehabt, und nun gebe es kein Politbüro mehr.

[78] Vom 1. Juni 2009 (auf russisch).

[79] Auf Einladung des Gerichtspräsidenten Lebedew nahm ich mit großem Interesse an der Plenarsitzung des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation teil, bei der es um die Prüfung von Vorschlägen zur Ersetzung der Untersuchungshaft durch andere Sicherungsmaßmnahmen ging. Der Oberste Gerichtshof scheint sich dieses Problems durchaus bewusst und grundsätzlich bereit zu sein, nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für human rightsMenschenrechte, in denen die bestehende Praxis kritisiert wird, tätig zu werden.

[80] Herr Chodorkowski war in seinem ersten Prozess zu 9 Jahren Haft verurteilt worden.

[81] Andere Experten waren der Ansicht, das Gesetz sei ursprünglich dafür maßgeschneidert worden, dem neuen Präsidenten bei der Lösung des „Chodorkowski-Problems“ zu helfen. Es hätte seine Freilassung in absehbarer Zukunft verlangt, ohne dass es einer potenziell konfliktreichen Begnadigung durch den Präsidenten bedurft hätte. Das in aller Eile eingeleitete neue Verfahren und das „Einfrieren“ des entsprechenden Gesetzesentwurfs werde als Maßnahme der „Anti-Chodorkowski-Gruppierung“ gewertet.

[82] Er erklärte, er habe 5-10% der Anträge abgelehnt (in der Regel kommt es zu keinerlei Ablehnungen), weshalb er öfffentlich von der Präsidentin des Moskauer Stadtgerichts, Frau Jegorowa, kritisiert worden sei. Als er sich offen rechtfertigte, warnte ihn Frau Jegorowa, sie werde sich „seinen Namen merken“.

[83] Herr Melichow erklärte, er habe in 300-400 Fällen 7 Freisprüche verkündet (wobei die Regel einmal mehr 0 Freisprüche seien). Außerdem habe er einen Stapel von Unterlagen an die Verkehrspolizei zurückgeschickt, die die Anklagen nach einer früheren Gesetzesfassung erstellt hätten, ohne einschlägige Änderungen zu berücksichtigen. Die Polizei habe sich bei Frau Jegorowa beschwert, die sich anschließend bei seinem eigenen Gerichtspräsidenten beklagt habe.

[84] Nach der Neuorganisation der Moskauer Gerichte in den Jahren 2003 und 2004 war er einer von 13 Richtern, deren Namen nicht in dem Präsidialerlass auftauchten, durch den alle Richter ihren neuen Gerichten zugewiesen wurden. Nach drei Monaten kam es zu einer Anhörung vor dem Qualifizierungskollegium, und 10 von ihnen (darunter Herr Melichow) wurden aufgefordert, ihr Amt gegen lebenslange Fortzahlung von 80% ihres Gehalts niederzulegen. Herr Melichow lehnte dieses Angebot als einziger ab, da er glaubte, nichts zu befürchten zu haben: Er hatte keine Gesetzesverstöße begangen, war vor seiner Einstellung auf Lebenszeit hervorragend bewertet worden, und die kleine Zahl von Urteilen, die Frau  Jegorowa (nicht seine direkte Vorgesetzte) für zu “weich” befunden hatte und die bis 1998 zurückreichten, waren alle in Kraft getreten (d.h. gingen nicht in die Berufung oder blieben bestehen).  Er hatte sich sogar mit seinem ersten Einspruch gegen das Qualifizierungskollegium durchgesetzt. Nach seiner Wiedereinsetzung wurde er erneut von Frau Jegowowa aus dem Amt entfernt und scheiterte danach mit seinen weiteren Einsprüchen. Ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für human rightsMenschenrechte ist noch anhängig.

[85] Ich begegnete ihr bei meinem Fact-finding-Besuch 2003 in Moskau. als es um den Bericht über das Verfahren gegen leitende Jukos-Manager ging (siehe Dok. 10368, Ziffer 61, Anmerkung 13).

[86] Im Gegenwert von € 50.

[87] Einen Monat später schoss in der Tat ein Unbekannter auf ihr Haus, doch die Polizei lehnte die Einleitung eines Verfahrens ab, weil der (durch eine Schrotflinte) verursachte Schaden zu geringfügig war.

[88] Frau Jegorowa.

[89] Frau Kadyrowa erklärte, die Unterschrift ihres Mannes sei auf 20 gefälschten Dokumenten gefunden worden. Der Handschriftenexperte des Gerichts habe festgestellt, dass 15 dieser Unterschriften eindeutig gefälscht worden waren, während er bei drei nicht sicher gewesen sei und zwei für echt befunden habe. Das Gericht hatte alle Anträge auf ein zweites Gutachten, darunter auch durch eine sehr renommierte Graphologin, Frau Wolodyna, zurückgewiesen, obwohl diese Expertin die Unterschriften auf den ersten Blick als Fälschung erkannt und drei Tage vor dem Gerichtssaal gewartet hatte, um aussagen zu können. Die Betrüger selbst hatten andere Richter als ihre Komplizen benannt, aber ganz kategorisch Richter ??? (Original nicht verständlich! Anm.d.Üb.) entlastet, obwohl einem von ihnen im Tausch gegen eine Aussage gegen ihn ein „Deal“ angeboten worden war.

[90] Z.B. systematische Ablehnung von Anträgen der Verteidigung zur Anforderung von Beweismaterialien; Zurückweisung aller Anträge der Verteidigung, das Verhandlungsprotokoll zu berichtigen auch in einem Fall, in dem die Staatsanwaltschaft genau den gleichen Antrag gestellt hatte und damit bei dem Gericht durchgekommen war; künstliche Abtrennung der Verfahren gegen die angeklagten Richter von denen der übrigen Betrüger, die schon vor Beginn des Prozesses gegen die Richter verurteilt worden waren eine Taktik zur Torpedierung der Rechte der Verteidigung, wie sie auch zurzeit in dem Prozesse gegen Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew angewandt wird (siehe Ziffer 95 weiter unten); Abstützen auf die Aussagen entscheidender Zeugen der Anklage in einem gesonderten Strafverfahren und während der Vorermittlungen statt auf die Aussagen eben dieser Zeugen während des Verfahrens selbst.

[91] Da es Herrn ??? (Original nicht verständlich! Anm.d.Üb.) gesundheitlich noch recht gut geht, hat er keine vorrangige Behandlung seines Falls durch den ohnehin überlasteten Straßburger Gerichtshof beantragt.

[92] Natalja Krainowa, „Judge Tells of Kremlin Threat“, Moscow Times, 14. Mai 2008.

[93] Solowjow hatte in dem Programm Solovinije Treli des Radiosenders Serebrjany Doschd erklärt, es gebe „keine unabhängigen Gerichte in Russland“, dagegen aber „von Bojew abhängige Gerichte“, „von eben jenem Bojew, der dem Oberen Schiedsgericht Weisungen erteilt“.

[94] Die Zeitung Kommersant (Artikel von Olga Pleschanowa, in: Kommersant Nr. 79 vom 13. Mai 2008) veröffentlichte einen Auszug aus der Zeugenaussage von Frau Waljawina. Sie hatte vor dem Gericht erklärt, Bojew habe sie im Herbst 2005 gebeten, ihr Urteil zu ändern, in dem es um das rechtmäßige Eigentum an einem Aktienpaket von Toljatti-Asot, dem größten Ammoniakhersteller des Landes, ging. Sie sagte, Bojew habe seine Drohung ausgesprochen, als sie sich weigerte, Folge zu leisten. Außerdem teilte sie dem Gericht mit, Bojew „als Vertreter der Präsidialverwaltung (nehme) an den Sitzungen des Oberen Qualifizierungsgremiums für Richter teil“.

[95] Siehe zum Beispiel „An ex-judge from Samara is trying to restore her position through the Strasbourg court“, IA Regnum, 23. Juni 2008, unter: http://www.regnum.ru/news/1018369.html

[96] Siehe zum Beispiel Aleksandr Odinzow, „Waiting for a new court“, Iswestija, 1. September 2006, unter: http://www.compromat.ru/main/titov/smarts.htm

[97] „Strasbourg check-up on soundness“, in: Parlamentarskaja Gaseta Nr. 43-44 (2295-6).

[98] Andrei Kulikow, Nesawisimaja Gaseta, 1. Juli 2008, unter: http://www.ng.ru/politics/2008-07-01/4_femida.html

[99] Siehe Wladimir Solowjow, „The judicial desert. The European Court of Human Rights has received for consideration and is checking the legality of the dismissal of Judge Kostyuchenko for her decisions on Togliatti-Azot”, Treli.ru 24. Juni 2008, unter: http://www.compromat.ru/main/mix/mahlaykostuchenko.htm; Solowjow behauptet, er habe Kopien des Protokolls der Sitzung des Qualifizierungskollegiums vom 1. Februar 2006 bekommen, in denen angeblich auf Telefonabhörmaßnahmen verwiesen worden sei, was die Beschwerden von Richterin Kustjuschenko bestätigen würde.

[100] Siehe European Commission for the Efficiency of Justice (Europäische Kommission für die Wirksamkeit der Justiz, CEPEJ), European Judicial Systems, Edition 2008, Tabellen 91 und 92: Zu Beginn ihrer Laufbahn verdienen Richter das 0,9fache des Jahresdurchschnittsgehalts in Deutschland und liegen für Frankreich beim 1,2fachen, für Russland beim 3,2fachen und für das Vereinigte Königreich) England und Wales beim 4fachen. Erfahrene Richter verdienen das 2,1fache des mittleren Jahresgehalts in Deutschland, das 3,5fache in Frankreich, das 7,5fache in Russland und das 6,5fache im Vereinigten Königreich. In den meisten europäischen Staaten erhalten Richter der unteren Gerichte das 2-3fache der nationalen Durchschnittsgehälter und an den Obergerichten rund das Doppelte davon.

[101] Siehe die obigen Ziffern 57-59.

[102] Siehe Michail Falalejew, „Cleaning the Uniform. Rashid Nurgaliyev: There will be no more corrupt officials“, in: Rossiskaja Gaseta, 14. Oktober 2008, unter: http://www.rg.ru/2008/10/14/mvd.html

[103] R. Vogler, A World View of Criminal Justice, 2005.

[104] Siehe Christian Lowe, „Russian defence lawyers in hazardous profession“, Reuters, 23. Juli 2007, unter: http://www.reuters.com/article/inDepthNews/idUnited StatesL2171073820070723

[105] Siehe Dok. 10368 (2005), „The circumstances surrounding the arrest and prosecution of leading Jukos officials“, Ziffern 20-42.

[106] Einen Überblick mit Links zu weiteren Artikeln gibt „Times Topic“, NY Times, 19. Mai 2009, http://topics.nytimes.com/top/reference/timestopics/people/m/karinna_moskalenko/index.html; Im April 2009 berichtete mir Frau Moskalenko in allen Einzelheiten über diesen Vorfall und den derzeitigen Ermitttlungsstand der französischen Behörden.

[107] Die Ermittlungen der französischen Polizei sind noch nicht abgeschlossen, doch scheint die zu Beginn aufgestellte These, der Vorbesitzer habe im Frühsommer in dem Auto ein Thermometer zerbrochen, unter Berücksichtigung der Verdunstungsrate von flüssigem Quecksilber nicht der im Oktober in dem Fahrzeug festgestellten Menge zu entsprechen.

[108] Siehe meine Erklärung zu diesem Vorfall auf der Website der Versammlung unter:

 http://assembly.coe.int/ASP/NewsManager/EMB_NewsManagerView.asp?ID=4527

[109] Ich hatte die PGO nach den Ergebnissen der Ermittlungen über den Angriff auf Herrn Ponomarjow gefragt, doch die Antwort beschränkte sich auf den Hinweis, es seien ein Verfahren eingeleitet und angemessene Ermittlungsschritte ergriffen worden.

[110] Den Durchsuchungsbefehl besorgte, wie es heißt, ein interner Ermittler, der dazu gar nicht berechtigt war, da es sich bei dem Ziel der Durchsuchung um eine Anwaltskanzlei handelte.

[111] Eine merkwürdige Koinzidenz ist auch darin zu sehen, dass weniger als eine Stunde vor der Durchsuchung von Herrn Chairetdinows Räumlichkeiten in ebendiesem Büro ein verdächtiges DHL-Paket abgeliefert worden war. Die Sendung war von einem DHL-Depot im Süden Londons von zwei russisch sprechenden Männern abgeschickt worden, die bar bezahlten (wie dies anscheinend Bilder von Überwachungskameras zeigen, die bei der Londoner Polizei gespeichert sind). Auf dem Paket war als Absenderanschrift fälschlicherweise das Londoner Büro von Hermitage Capital und als Absender eine fiktive Person angegeben. Die Sendung enthielt gefälschte Dokumente. Die Anwälte von HSBC/Hermitage sehen hierin den eindeutigen Versuch, Herrn Chairetdinov und seinen Mandanten etwas „anzuhängen“.

[112] Seinen Anwälten zufolge ist er in einer überfüllten Zelle mit Kakerlaken inhaftiert, in der sich mehr Insassen als Betten befinden. Die ganze Zeit brennt das Licht, es gibt bei der Benutzung der Toilette keine Privatsphäre, nur einmal die Woche kann 10 Minuten lang geduscht werden, die Zelle hat keine Lüftung, und nur für weniger als eine Stunde am Tag kann die Zelle für einen Aufenthalt auf einem geschlossenen Hof von von 3 x 5 Metern verlassen werden.

[113] Entscheidung des Twerskoi-Bezirksgerichts in Moskau auf Antrag des Ermittlers O.F. Siltschenko vom 3. März 2009 (Kopie und Übersetzung bei den Akten). Der Antrag beruht unter anderem auf der Notwendigkeit, die Suche nach Herrn William Browder zu intensivieren, dessen Aufenthaltsort (in London) den Behörden durchaus bekannt ist.

[114] Siehe die obige Ziffer 66.

[115] Fall Nr. 374015.

[116] Fall Nr. 153123.

[117] Unter: http://assembly.coe.int/CommitteeDocs/2009/20090127_DeclarationTchetchenie_E.pdf; siehe auch die Erklärung des Berichterstatter für den Nordkaukasus, Dick Marty (Schweiz, ALDE), vom 20. Januar 2009 (unter:

http://assembly.coe.int/ASP/Press/StopPressView.asp?ID=2115

[118] Diese Rechtssache erinnert an den Fall des Anwalts Michail Trepaschkin, der wegen angeblicher Verletzung von Staatsgeheimnissen gerichtlich verfolgt wurde, um ihn daran zu hindern, seine Mandanten in einem besonders sensiblen Fall zu vertreten (siehe den Bericht von Herrn Pourgourides über „Fair trial issues in cases involving espionage and state secrets“, Dok. 11031 (2007), Ziffern 36-39).

[119] Siehe zum Beispiel die Besorgnisse des Menschenrechtskomitees der Vereinten Nationen wegen Folter oder Misshandlung, insbesondere bei informellen Verhören auf Polizeiwachen, bei denen kein Anwalt dabeisein muss und der unterbliebenen Strafverfolgung von Justizbediensteten in Concluding observations of the Human Rights Committee: Russian Federation, CCPR/CO/79/RUnited States, 6. November 2003. Siehe auch Fälle mit Verstößen gegen Artikel 3 der Konvention während eines Verhörs wie bei Maslowa und Nalbandow gegen Russland, 839/02, 24. Januar 2008 und Mammadow (Jalaloglu) gegen Aserbaidschan, 34445/04, 11. Januar 2007.

[120] Siehe Dok. 10368 (Ziffer 86, weiter oben), Ziffer 44.

[121] Die Generalstaatsanwaltschaft gibt die Verwendung dieser Taktik in ihrer Antwort vom 1. Juni 2009 zu und rechtfertigt sie mit ihrer Vereinbarkeit mit Artikel 154 der Russischen Strafprozessordnung.

[122] Siehe James Rodgers, BBC News, Moskau, 27. Mai 2008; Rossija TV/Interfax/Russia, 11. Juni 2008.

(http://home.coe.int/Wires/WiresLectureE.asp?WiresID=101800

[123] Ich nahm auch 2004 an einer Gerichtsverhandlung während des ersten Prozesses gegen dieselben Angeklagten teil (siehe Dok. 10368 (2007), Ziffern 44 und 47).

[124] Ein führender Rechtsberater von Jukos. Er wurde erst nach der dritten entsprechenden Verfügung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus humanitären Gründen entlassen (er leidet an AIDS, Krebs und mehreren anderen lebensbedrohlichen Krankheiten, die in der Haft nicht sachgerecht behandelt werden könnten); siehe Alexanjan gegen Russland (Beschwerde Nr. 46468/2006), Urteil vom 22. Dezember 2008, insbesondere die Ziffern 75-86 über die wiederholte Anwendung der Vorschrift 39 durch das Gericht.

[125] Eine Mitarbeiterin der Rechtsabteilung, die wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, gilt weithin als „Geisel“ für die Flucht eines dienstälteren Kollegen in das Vereinigte Königreich. Sie ist Mutter mehrerer Kleinkinder, von denen sie eines in Haft gebären musste (siehe http://www.rferl.org/articleprintview/1504658.html)

[126] Eingang der Erwiderung (auf russisch) am 1. Juni 2009.

[127]  Siehe ITAR-TASS-Meldung (Moskau) vom 2. Juni 2009 (Zitate von Herrn Lebedew und Herrn Moskalenko).

[128]  ITAR-TASS (siehe die obige Fußnote 127) zitiert den Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft wie folgt:

„Während der Vorermittlungen wurde festgestellt, dass die Angeklagten, die in einer organisierten Gruppe tätig waren, an der die Hauptaktionäre YUKOS OJSC sowie andere Personen beteiligt waren, einen Diebstahl begingen, indem sie vom 6. November (1997) bis zum 12. Juni 1998 Aktien von Tochtergesellschaften der Eastern Oil Company OJSC im Wert von 3,6 Mrd. Rubel unterschlugen, die gestohlenen Aktien der Töchter der Eastern Oil Company OJSC 1998-2000 in gleicher Höhe legalisierten, Diebstahl begingen, indem sie 1998-2003 YUKOS OJSC-Tochtergesellschaften gehörendes Öl wie auch Öl veruntreuten, das Samaraneftegas, Yuganskneftegas und Tomskneft der Eastern Oil Company OJSC gehörte, und zwar zu einem Betrag von mehr als 892,4 Mrd. Rubel, und einen Teil dieser Beträge 1998-2004 in Höhe von 487,4 Mrd. Rubel und US$ 7,5 Mrd. legalisieren.”

[129]  Die Generalstaatsanwaltschaft bezog sich in ihrer Antwort auf meine schriftlichen Fragen ganz abstrakt auf der rückwirkenden Pönalisierung von Handlungen, die zum Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßíg waren, kommentierte jedoch nicht die konkrete Frage der rückwirkenden Schließung des Steuerschlupflochs.

[130] Interessanterweise erklärte der EGMR in seinem Zulässigkeitsbeschluss vom 7. Mai 2009 in der Sache Chodorkowski gegen Russland (Beschwerde Nr. 5829/04) außerdem die Behauptung der Verletzung von Artikel 18 EMRK für zulässig (was implizite bedeutet, dass der Gerichtshof nicht die Möglichkeit eines Urteils ausschließt, wonach die Ingewahrsamnahme, die Haft und die Strafverfolgung von Herrn Chodorkowski politisch motiviert waren).

[131] Aus Platzgründen habe ich den zusätzlichen Anklagepunkt des Betrugs zu Lasten von APATIT nicht aufgenommen.

[132] Wladimir Milow, der Präsident des Instituts für Energiepolitik und früherer stellvertretender Energieminister der  Russischen Föderation  Russian Federation, sprach diesen Punkt, wie es heißt, wie folgt an: “… die Schlussfolgerungen des Ermittlers beruhen letzten Endes auf grundgelegend verfehlten Annahmen über den prinzipiellen Aufbau der modernen Ölindustrie… Ein Wirtschaftsstudent würde herausgeworfen, sollte er derartige Fehler machen.” (siehe „Questions and Answers about the second Trial of Mikhail Chodorkowski and Platon Lebedew“, Frage 3, unter: http://www.Chodorkowskicenter.com/news-resources/stories/
questions-answers-about-second-trial-mikhail-Chodorkowski-and-platon-lebedew

[133] Siehe “Questions and Answers” (obige Fußnote 132), Frage 3.

[134] Die Entsprechung der 892,4 Mrd. Rubel, die der Sprecher des Generalstaatsanwalts erwähnte, obige Fußnote 128.

[135] See „Questions and Answers“ (obige Fußnote 132), Fragen 1 und 2.

[136] Die Generalstaatsanwaltschaft bezieht sich in ihrer schriftlichen Antwort vom 1. Juni 2009 in abstrakter Form auf die Vorschrift ne bis in idem, kommentiert jedoch nicht die konkrete Frage, dass die dem ersten Urteil zugrundeliegenden Geschäftsvorgänge und die neuen Anklagepunkte die gleichen zu sein scheinen.

[137]  Siehe Dok. 10368 (2007), Ziffern 8-10.

[138]  Siehe Dok. 10368 (2007), Ziffer 49, Fußnote 9.

[139]  Einschließlich eines verurteilten Mörders (mir liegen Kopien von Unterlagen vor, die ihre Vorstrafen bestätigen).

[140]  Diese Forderungen wirken rechtlich wie faktisch absurd appear (ich konnte in dies erhärtende Unterlagen Einblick nehmen).

[141]  Zwei Anträge auf Erstattung von insgesamt rund 1,8 Mrd. Rubel im Hinblick auf Rilend wurden am 21. Dezember 2007 bei dem Finanzamt Nr. 25 gestellt und am 24. Dezember 2007 entschieden. Fünf Anträge zu Makhaon und Parfenion über insgesamt 3,7 Mrd. Rubel wurden am 24. Dezember 2007 bei dem Finanzamt Nr. 28 gestellt und an demselben Tag bewilligt! Auch dazu habe ich Beweisunterlagen einsehen können.

[142]  Siehe zum Beispiel Francesca Mereu, Corporate Raiders use Cash, Friends, in: Moscow Times, 13. Februar 2008 (unter: http://www.cdi.org/russia/johnson/2008-31-29.cfm). Der Artikel ist eine ernüchternde Lektüre. Hier einige Auszüge:

      „Firmenaufkäufer (Raider) nutzen hier ihre Kontakte zur Bestechung von Beamten, um illegal Unternehmen in die Hand zu bekommen oft um auf diese Weise erstklassige Grundstücke zu erhalten. Zu den Raidern zählen vielfach ehemalige Geheimdienstler, Polizisten, Anwälte und Leute mit Verbindungen zu hochgestellten Staatsbediensteten. Sie zahlen an Richter, Staatsanwälte und Verwaltungsmitarbeiter aller Ebenen. Über diese Kanäle können die Raider eine Firma durchsuchen, Informationen über den Inhaber sammeln und die verschiedensten Dokumente fälschen lassen, die sie zur Übernahme des Unternehmens benötigen.

       ‚Leider arbeiten Raider für das System, und auf diesem Wege können sie alles fälschen, was sie nur haben wollen’, erklärt Gennadi Gudkow, der frühere Leiter einer Arbeitsgruppe, die sich in der letzten Duma mit dieser Frage befasste.

      Es liegen keine genauen Zahlen darüber vor, wieviele Angriffe von Raidern jedes Jahr vorkommen. Gudkow meinte, seine Arbeitsgruppe habe in Moskau rund 1 000 Fälle im Jahr erfasst und eine ähnliche Zahl in der Region um Moskau herum. Das sei jedoch nur „die Spitze des Eisbergs“. Die tatsächlichen Zahlen dürften nach seiner Einschätzung 4-5mal höher liegen. In Medienberichten wird für das gesamte Land von rund 70 000 Fällen gesprochen.

      Neben Moskau und dem Umland der Hauptstadt sind die bevorzugten Ziele der Raider St. Petersburg und die Region des ehemaligen Leningrads. Immobilien erzielen dort Spitzenpreise, und um die wenigen legal käuflichen Grundstücke tobt ein erbitterter Wettbewerb.

      Viele für diesen Bericht befragte Geschäftsleute, Polizeibeamte und andere Staatsbedienstete wollten sich nur anonym äußern, sprachen von einer heiklen Thematik und befürchteten Repressalien. Die Geschäftsleute baten außerdem darum, ihre ehemaligen Firmen nicht zu nennen. Sie erklärten, sie hätten sich nicht bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Inlandsgeheimdienst beklagt, wohl sie glaubten, die Raider stünden mit diesen Einrichtungen in Verbindung.

[143]  In einem Schreiben vom 2. Mai 2009 (Kopie im Archiv) erklärt Premierminister Gordon Brown, die Regierung des Vereinigten Königreichs habe „den russischen Behörden weiterhin unsere Besorgnisse im Hinblick auf Herrn Browders Fall verdeutlicht und darauf verwiesen, dass er das Vertrauen britischer und anderer in Russland geschäftlich tätiger Investoren beeinträchtigen (könne) und dass es, solange komplexe rechtliche Verfahren ihren Gang gehen, darauf (ankomme), die Gesetze anzuwenden und ihre faire und strikte Anwendung vor Augen zu führen“.

[144]  Siehe die obigen Ziffern 89-90.

[145]  Siehe die obige Ziffer 66.

[146]  Die Anwälte von HSBC/Hermitage haben mir Kopien der Empfangsbescheinigungen zur Verfügung gestellt, aus denen hervorgeht, dass diese Beschwerden tatsächlich eingereicht wurden.

[147]  Lew Ponomarjow wurde auf dem Heimweg von unserem Treffen Opfer eines gewalttätigen Angriffs. Ich brachte, sobald ich von dem Überfall gehört hatte, öffentlich mein Entsetzen zum Ausdruck (siehe:

http://assembly.coe.int/ASP/NewsManager/EMB_NewsManagerView.asp?ID=4527)

[148]  Siehe meinen Bericht über „Investigation of crimes allegedly committed by high officials during the Kuchma rule in Ukraine: the Gongadze case as an emblematic example“, Dok. 11686 und Entschließung 1645 (2009) sowie Empfehlung 1856 (2009).

[149]  Entschließung 1551 (2007) und Empfehlung 1792 (2007); Dok. 11031.

[151]  Siehe die obigen Ziffern 98 ff.

[152]  Siehe die obige Ziffer 98, Fussnote 125.

[153]  Siehe die obige Ziffer 98, Fussnote 126.

[154]  Siehe die obige Ziffer 106.

[155]  Siehe die obige Ziffer 86.

[156]  Siehe die obige Ziffern 88 ff.

[158]  Siehe die obige Ziffer 73.

[160]  Siehe die obige Anmerkung 118.

[161]  Siehe die Ziffern 69-76.

[162]  Z.B. Artikel 3.2. des Europäischen Auslieferungsübereinkommens, SEV Nr. 024.

[163]  Zum Beispiel das Urteil des Bow Street Magistrates Court (London) vom 23. Dezember 2005, in dem die Auslieferung von Herrn Temerko (des Nachfolgers von Herrn Chodorkowski als Jukos-Chef) abgelehnt wurde; das Urteil des Obersten Tschechischen Gerichtshofs vom 31. Juli 2007, in dem das Urteil eines nachgeordneten Gerichts bestätigt wurde, eine ehemalige russische Jukos-Mitarbeiterin nicht auszuliefern (Frau Wybornowa); das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 13. August 2007 zur Aufhebung der Anweisungen zum Einfrieren von mit Jukos zusammenhängenden Vermögenswerten und zur Freigabe beschlagnahmter Unterlagen aufgrund der Erkenntnis, dass „alle diese Elemente eindeutig den Verdacht erhärten, dass dieses Strafverfahren von den Mächtigen inszeniert wurde, um sich die Klasse der reichen „Oligarchen“ unterzuordnen und potenzielle oder eingeschworene politische Gegner aus dem Wege zu räumen”; das Urteil des Regionalgerichts Vilnius (Wilna) vom 31. August 2007, in dem die Auslieferung des früheren Jukos-Mitarbeiters Brudno abgelehnt wurde; das Urteil des Bezirksgerichts Amsterdam vom 31. Oktober 2007, in dem die Anerkennung der Rechtmäßigkeit des Konkursverfahrens gegen Jukos wegen „einer Verletzung der Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Verfahrens“ abgelehnt wurde;  das Urteil des City of Westminster Magistrates’ Court vom 19. Dezember 2007, durch das die Auslieferung von Herrn Asarow abgelehnt wurde, eines angeblich mit Jukos verbundenen Schifffahrtsmanagers; Urteile des Gerichts der Provinz Harju (Estland) vom 27. Februar 2008, in dem die Auslieferung von Herrn Zabelin abgelehnt wurde (der erklärt hatte, er habe fliehen müsse, weil er es abgelehnt habe, gegen die Jukos-Führung falsch auszusagen; Herrn Zabelins Auslieferung aus Deutschland war zuvor im Dezember 2007 von einem Gericht in Brandenburg abgelehnt worden); das Urteil des Bezirksgerichts Nikosia vom 10. April 2008 mit der Ablehnung der Auslieferung von Herrn Kartaschow, eines früheren Jukos-Mitarbeiters; das Urteil des Obersten Gerichtshofs Israels vom 14. Mai 2008 mit der Ablehnung der Auslieferung von Herrn Newslin, eines ehemaligen leitenden Jukos-Managers, der der Verschwörung zum Mord beschuldigt worden war; das Urteil des High Court des Vereinigten Königreichs vom 3. Juli 2008. in dem ein Antrag abgelehnt wurde, eine geschäftliche Streitigkeit mit Beteiligung von Herrn Deripaska in Russland statt im Vereinigten Königreich vor Gericht zu bringen in der Auffassung, dass wegen der engen Verbindung zwischen Herrn Deripaska und dem russischen Staat eine beträchtliche Gefahr einer unangemessenen staatlichen Einmischung bestand und dass dem Recht nicht Genüge getan werde; die Urteile des City of Westminster Magistrates Court vom 8. und 22. Dezember 2008, mit denen die Auslieferung von vier russischen Staatsbürgern abgelehnt wurde, deren Fälle nichts mit Jukos zu tun hatten, die aber geschäftliche Interessen im Bereich des Öltransports verfolgten.

[164]  Ende 2008 übergab der russische Generalstaatsanwalt unserer Ausschussvorsitzenden, Frau Däubler-Gmelin, eine lange Liste schwebender Auslieferungsanträge der Russischen Föderation an das Vereinigte Königreich, die Frau  Däubler-Gmelin mir für die Erstellung des vorliegenden Berichts übergab. Ich hatte vorgehabt, über die auf der Liste aufgeführten Fälle zusätzliche Informationen zu erlangen, um sie bei dem Treffen in Moskau mit der Generalstaatsanwaltschaft zu erörtern, doch der Termin wurde kurzfristig abgesagt.

[165]  Siehe Ziffer 51, Anmerkung 56.




Bericht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger