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                                                Abhängigkeiten der deutschen Justiz

In Deutschland unterliegen sowohl Staatsanwälte als auch Richter vielfältigen Abhängigkeiten von der jeweiligen Regierung. Um den dadurch möglichen Missbrauch der Justiz zu begrenzen, hat der Europarat am 30.9.2009 eine Resolution mit mehreren konkreten Maßnahmen verabschiedet. Unter anderem fordert der Europarat, die politische Weisungsabhängigkeit von Staatsanwälten abzuschaffen, die Bezahlung von Richtern und Staatsanwälten zu verbessern und das Beförderungssystem mit Hilfe sogenannter Justizräte zu reformieren. Der Artikel unseres Vereinsmitgliedes Lothar Gutsche beschreibt, wie Politiker die Strafverfolgung in Deutschland beeinflussen können. Ferner dokumentiert sein Beitrag den Unwillen der Bundesregierung, an den vom Europarat kritisierten Zuständen etwas zu ändern. Im Gegenteil, mit Legalisierung der Deal-Justiz entfernt sich Deutschland immer weiter von rechtsstaatlichen Grundsätzen. Letztlich begünstigt die Abhängigkeit der Justiz "Regierungskriminalität im Sinne des Deutschen Richterbundes" und schafft den Rechtsrahmen für große Wirtschaftsstraftaten, ohne dass die Täter Strafe fürchten müssen.

  Lothar Gutsche                                                                                                             15.08.2010

 Abhängigkeiten der deutschen Justiz

 
Am 5. Mai 1949 wurde der Europarat gegründet, um in ganz Europa gemeinsame und demokratische Prinzipien zu entwickeln. Grundlage hierfür sind die Europäische Konvention für Menschenrechte sowie andere Referenztexte zum Schutz des Einzelnen. Nach eigener Darstellung unter http://www.coe.int/aboutCoe/index.asp?page=quisommesnous&l=de hat der Europarat mit Sitz im französischen Straßburg heute 47 Mitgliedsstaaten und umfasst damit fast alle Staaten Europas.

 
Im Jahr 2009 hat der Ausschuss für Recht und Menschenrechte des Europarats eine Reihe von Maßnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten in ganz Europa empfohlen, um politisch motivierter Einmischung in einzelnen Fällen ein Ende zu setzen. Die Empfehlungen sind am 7. August 2009 unter dem Titel „Behaupteter politisch motivierter Missbrauch des Strafrechtssystems in Mitgliedstaaten des Europarats“ als Bericht „Dok. 11993“ veröffentlicht worden, siehe in englischer Sprache unter dem Titel „Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states“ http://assembly.coe.int/Documents/WorkingDocs/doc09/edoc11993.pdf und in deutscher Übersetzung hier. Berichterstatterin war die damalige FDP-Bundestagsabgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die heutige Bundesjustizministerin. Die Empfehlungen wurden von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates als Resolution 1685-2009 am 30.9.2009 angenommen, siehe http://www.assembly.coe.int/Mainf.asp?link=/Documents/AdoptedText/ta09/ERES1685.htm. Um den politisch motivierten Missbrauch des Strafrechtssystems zu verhindern, fordert die Resolution mehr Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten u. a. auch in Deutschland.

1. Abhängigkeiten der Richter 1

1.1 scheinbare Unabhängigkeit der Richter 1

1.2 vom Europarat empfohlene Maßnahmen. 3

1.3 Begründung der Maßnahmen. 3

2. Abhängigkeiten der Staatsanwälte. 4

2.1 politische Weisungsgebundenheit 5

2.2 typische Einflussnahmen. 6

2.3 mangelhafte personelle Ausstattung. 7

3. politische Aktivitäten. 7

3.1 Umsetzung der Resolution 1685. 7

3.2 Dealjustiz. 9

4. Wertung. 11

Literaturhinweise. 12

 

1. Abhängigkeiten der Richter

1.1 scheinbare Unabhängigkeit der Richter

Wenn das Grundgesetz Wirklichkeit geworden wäre, dann müssten Richter unabhängig sein. Denn Artikel 97 des Grundgesetzes lautet:

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

 
Nach Artikel 20 des Grundgesetzes sind in Deutschland die staatlichen Gewalten geteilt:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

 
Tatsächlich erzeugen die genannten Passagen nur einen schönen Schön, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Das stellte schon vor rund 60 Jahren der deutsche Jurist und Widerstandskämpfer Paulus van Husen fest, siehe http://www.gewaltenteilung.de/gewaltenteilung.htm#hus. Die Erkenntnisse eines Paulus van Husen werden 2009 vom Europarat bestätigt. Der Ausschuss für Recht und Menschenrechte verlangt in Deutschland die Einrichtung von „Justizräten“, wie es sie in den meisten anderen europäischen Staaten gibt. Damit sollen Richter und Staatsanwälte bei der Anwendung des Justizwesens mehr Mitsprache erhalten. Ferner verlangt der Europarat, die Möglichkeit abzuschaffen, dass Justizminister in Einzelfällen der Anklagebehörde Weisungen erteilen können. Im einzelnen werden die Ziele wie folgt formuliert, vgl. Seite 2 in Dok. 11993:

 
Die Unabhängigkeit der Gerichte und jedes einzelnen Richters wird in allen Mitgliedstaaten des Europarats grundsätzlich anerkannt. Das sollte sich auch in den Verfassungen der Staaten niederschlagen. Wirkliche richterliche Unabhängigkeit setzt außerdem eine Reihe rechtlicher und praktischer Sicherungen voraus, darunter

·         die Einstellung und Beförderung von Richtern allein nach ihrem Verdienst (Qualifikation, Integrität, Fähigkeiten und Effizienz);

·         den effektiven Schutz vor unfairen Disziplinarmaßnahmen (vor allem einer Entlassung);

·         Gehälter und Leistungen, die es den Richtern und ihren Angehörigen ermöglichen, nicht auf die Bereitstellung von Wohnraum oder anderen Vergünstigungen durch die vollziehende Gewalt angewiesen zu sein;

·         den Schutz der Unabhängigkeit der Richter gegenüber Gerichtspräsidenten und Richtern von Obergerichten, unter anderem durch die Zuweisung von Fällen nach strengen Regeln auf der Grundlage zuvor festgelegter objektiver Systeme, damit den Richtern einzelne Fälle nicht ohne gesetzlich genau umrissene Begründung entzogen werden können und indem sichergestellt wird, dass die Beurteilung der Leistung eines Richters nicht an dem Verhältnis der von Obergerichten bestätigten oder kassierten Urteile gemessen wird.

 
Die aktuelle Lage in Deutschland wird in Dok. 11993 wie folgt charakterisiert:

1.      Die Unabhängigkeit der Richter wird nach dem Gesetz wie in der Praxis geachtet, doch ist es zu einer beträchtlichen Erosion ihres Sozialstatus gekommen.

2.      Der französische Conseil Supérieur de la Magistrature, welcher für Richter und in geringerem Maße auch für Staatsanwälte eine wichtige Rolle in Laufbahn- und Disziplinarangelegenheiten spielt, kennt in Deutschland immer noch keine Entsprechung.

 

1.2 vom Europarat empfohlene Maßnahmen

Damit die praktischen Maßnahmen zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit effektiv sind, empfiehlt der Europarat einen starken Justizrat bei der Überwachung der Umsetzung der richterlichen Unabhängigkeit, vgl. Seite 2 in Dok. 11993:

·         Justizräte müssen entscheidenden Einfluss auf die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten sowie auf gegen diese gerichtete Disziplinarmaßnahmen nehmen, und zwar unbeschadet der in manchen Verfassungen vorgesehenen richterlichen Überprüfungsmechanismen.

·         Gewählte Vertreter von Richtern und Staatsanwälten sollten mindestens genauso zahlreich wie von politischen Gremien benannte Mitglieder anderer gesellschaftlicher Gruppierungen sein. Die zuletzt erwähnten Mitglieder sollten für alle politischen Hauptströmungen des Landes repräsentativ sein. Die in vielen Staaten geltende Praxis, Parlamentsausschüsse in die Benennung bestimmter hoher Richter einzubeziehen – was auch für die Wahl der Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gilt – ist ebenfalls annehmbar.

 
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates fordert Deutschland im Hinblick auf die Richter zu folgenden Maßnahmen auf, siehe Seite 5 in Dok. 11993:

+              Erwägung der Errichtung eines gerichtlichen Selbstverwaltungssystems unter Berücksichtigung der föderalen Struktur der justiziellen Selbstverwaltung und entsprechend dem Beispiel der in der übergroßen Mehrheit der europäischen Staaten bestehenden Gerichtsräte, um auf diese Weise die künftige Unabhängigkeit der Gerichte zu sichern;

+              allmähliche Anhebung der Gehälter von Richtern und Staatsanwälten auf ein Niveau, das der Würde und Bedeutung ihres Amtes entspricht, bis sie (im Vergleich mit dem Durchschnittseinkommen der Gesamtbevölkerung) den Durchschnitt aller europäischen Staaten erreichen

 
Ferner fordert die Parlamentarische Versammlung des Europarats den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Prüfung der Frage auf, ob Anträge wegen behaupteter Verletzungen der richterlichen Unabhängigkeit und Fällen politisch motivierten Missbrauchs des Strafrechtssystems vorrangig behandelt werden sollten. Angesichts der grundlegenden Bedeutung unabhängiger Gerichte für den Schutz der Menschenrechte auf nationaler Ebene könnte eine solche Politik dazu beitragen, die Flut von Anträgen an den Europäischen Gerichtshof einzudämmen.

 

1.3 Begründung der Maßnahmen

Sehr aufschlussreich ist die Begründung der Maßnahmen. In der Zusammenfassung heißt es, vgl. Seite 3 in Dok. 11993: „Die Unabhängigkeit der Richter wird nach dem Gesetz wie in der Praxis geachtet, doch ist es zu einer beträchtlichen Erosion ihres Sozialstatus gekommen.

 
Wesentlich deutlicher werden die Maßnahmen im erläuternden Bericht von Frau Leutheusser-Schnarrenberger begründet. So heißt es auf Seite 21 in Randnummer 56: „Der Deutsche Richterbund ist der Ansicht, dass die unzureichende justizielle Selbstverwaltung in Deutschland durchaus einer der Gründe dafür sein könnte, dass das Gerichtswesen im Vergleich mit anderen europäischen Staaten so unterfinanziert ist – was neuere Vergleichsuntersuchungen auf europäischer Ebene tendenziell unterstreichen. Selbst eine so ‚prosaische’ Frage wie die der Gehälter von Richtern und Staatsanwälten wird betrachtet, als wirkten sich ‚unangemessene äußere Einflüsse’ auf die Unabhängigkeit des Gerichtswesens aus.“

 
Geradezu erschütternd klingt die Erklärung der heutigen Bundesjustizministerin als damalige Berichterstatterin Leutheusser-Schnarrenberger auf Seite 22 in Randnummer 61 des Berichts „Dok. 11993“:

 
Im Hinblick auf die Frage der Gehälter stimme ich den Vertretern der Richter und Staatsanwälte zu, dass eine angemessene Bezahlung einen notwendigen Bestandteil des Schutzes vor unzulässigen äußeren Einflüssen darstellt. Sinken die Vergütungen zu tief ab, droht die Gefahr der Korruption – einer Krankheit, die zu heilen weitaus schwieriger ist als sie zu verhüten. Außerdem könnten angehende Richter und Staatsanwälte sich ohne anständige Bezahlung auf allen Ebenen des Gerichtswesens unter dem wirtschaftlichen Zwang fühlen, sich durch Gefälligkeiten gegenüber den Machthabern für Beförderungen ins Gespräch zu bringen.

 
Hier identifizieren Experten die schlechte Bezahlung und das Beförderungssystem in der deutschen Justiz als Ursache von Richterbestechung und Gefälligkeitsurteilen in Deutschland! Was unterscheidet Deutschland da noch von einer Bananenrepublik? Von Rechtsstaatlichkeit will schon niemand mehr reden.

 
Die Unterfinanzierung der Justiz hat weitere negative Auswirkungen, die in dem Bericht „Dok. 11993“ nicht näher beschrieben werden. Zu wenige Richterstellen führen zu langen Verfahrensdauern und verschlechtern die Qualität der Entscheidungen. Die schnelle Erledigung von Streitigkeiten gewinnt den Vorzug vor der Gerechtigkeit. Für einen Richter mit großen Aktenbergen ist es günstiger, „kurzen Prozess zu machen“, statt „die Sache gründlich aufzuklären, für Rechtsfrieden zu sorgen und ein – vor allem für den Unterlegenen – überzeugendes Urteil zu schreiben“, so formuliert es Christian Oestmann, Richter am Verwaltungsgericht Berlin in der NRV-Info NRW 12-2009 der Neuen Richtervereinigung auf Seite 13 – 14.

 
Weiter hält Richter Oestmann fest: „Die bestehenden Strukturen fördern eher die Anbiederei als eine unabhängige kritische Haltung.“ Das Beförderungssystem charakterisiert Christian Oestmann wie folgt: „Das Beurteilungssystem ist das wesentliche Instrument der Selbstrekrutierung innerhalb des hierarchischen Systems. Man befördert den, der so richtet, wie man es für richtig hält.

 
Mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts können sich deutsche Richter kein Gehör im Parlament verschaffen. Anders als z. B. die Rechnungshöfe, die Datenschutzbeauftragten oder das Bundeskartellamt haben Richter oder Richtervertretungen kein Recht zu Rede und Anträgen im Parlament.

 
Eine umfassende Begründung der Maßnahmen, die zur richterlichen Unabhängigkeit erforderlich sind, findet sich in dem 137 Seiten starken Diskussionspapier der Neuen Richtervereinigung zum „Entwurf eines Gesetzes zur Herstellung der institutionellen Unabhängigkeit der Justiz“ vom 12. März 2010, siehe http://nrv-net.info/downloads_publikationen/488.pdf.

 

2. Abhängigkeiten der Staatsanwälte

Die Rechtsprofessorin Anne van Aaken und die beiden Wirtschaftsprofessoren Stefan Voigt und Lars P. Feld zeigten 2004 in einer empirischen Studie auf der Basis von 62 Ländern, dass die faktische Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft die unterschiedlichen Korruptionsniveaus in den Ländern entscheidend beeinflusst. Die Studie mit dem Titel “Power Over Prosecutors Corrupts Politicians: Cross Country Evidence Using a New Indicator” leitet den Einfluss mit mathematisch-statististischen Methoden her. Wenn Politiker Macht über Staatsanwälte ausüben können und ihnen in konkreten Einzelfällen sogar Weisungen erteilen dürfen, dann steigt das Risiko von Korruption.

 

2.1 politische Weisungsgebundenheit

Deutsche Staatsanwälte unterliegen nach den §§ 146 – 147 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) politischen Weisungen.

 
§ 146 GVG zur Weisungsgebundenheit lautet:

Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen.

 
§ 147 GVG zur Dienstaufsicht lautet:

Das Recht der Aufsicht und Leitung steht zu:

1. dem Bundesminister der Justiz hinsichtlich des Generalbundesanwalts und der Bundesanwälte;

2. der Landesjustizverwaltung hinsichtlich aller staatsanwaltschaftlichen Beamten des betreffenden Landes;

3. dem ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten hinsichtlich aller Beamten der Staatsanwaltschaft ihres Bezirks.

 
Damit ist die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaften von Politikern in Deutschland gesetzlich verankert. Anders als die herrschende Juristenmeinung glauben machen will, waren die Staatsanwälte von Anfang an ein Instrument der Regierenden, die früher wie heute damit ihre Machtinteressen durchsetzen wollen. Das ist das Ergebnis der Forschungen von Dr. Peter Collin in dem Artikel „Die Geburt der Staatsanwaltschaft in Preußen“ vom März 2001 im Forum historiae iuris, siehe http://s6.rewi.hu-berlin.de/online/fhi/articles/0103collin.htm. Daraus entnommen ist das folgende Zitat:

Die Staatsanwaltschaft war also weder ein ‚Kind der Revolution’ noch ist ihre Einführung auf liberal-rechtsstaatliches Gedankengut zurückzuführen. Nahezu unbeeindruckt von der in der Literatur stattfindenden Reformdiskussion entwarf die Ministerialbürokratie eine Staatsanwaltschaft, die den Bedürfnissen der Regierung entsprach. Ihr ging es in erster Linie darum, eine Behörde zu schaffen, die ein Gegengewicht zu den als politisch unzuverlässig verdächtigten Gerichten darstellte, deren Tätigkeit initiierte, kontrollierte und wenn nötig korrigierte. Auf diese Weise, so hoffte man, könnten politische Zwecksetzungen im Strafverfahren ihre Berücksichtigung finden. Hinter dem ‚Wächter des Gesetzes’ verbarg sich das ‚Organ der Staatsregierung’.

 
Der Ausschuss für Recht und Menschenrechte des Europarates hat in dem Bericht „Dok. 11993“ vom 7. August 2009 auch einige Maßnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit von Staatsanwälten empfohlen. Als Ziele gibt der Bericht auf Seite 2/3 aus:

·         Staatsanwälte müssen ihre Aufgaben ohne Einmischung aus dem Bereich der Politik erfüllen können. Sie müssen gegen Weisungen zu einzelnen Fällen abgeschirmt werden, zumindest dann, wenn solche Weisungen die gerichtliche Verwertung von Ermittlungen verhindern würden.

·         Die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft ist zu stärken.

 
Die aktuelle Lage in Deutschland wird vom Ausschuss wie folgt charakterisiert: Die Unabhängigkeit der Staatsanwälte ist weitaus weniger entwickelt als im Vereinigten Königreich. Um die Unabhängigkeit des Strafjustizsystems zu sichern und es vor politisch motivierten Einmischungen zu bewahren, fordert die Parlamentarische Versammlung des Europarates Deutschland u. a. dazu auf, die den Justizministern eingeräumten Möglichkeit, den Strafverfolgern in einzelnen Fällen Weisungen zu erteilen, abzuschaffen.

 
In der Erläuterung befürwortet Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in ihrer Funktion als Berichterstatterin die Abschaffung der Weisungsgebundenheit. Wörtlich schreibt sie in Randnummer 60 auf Seite 22 von Dok. 11993: „Was das Recht angeht, Staatsanwälten Einzelanweisungen zu erteilen, unterstütze ich uneingeschränkt den Vorschlag, diese Möglichkeit abzuschaffen. Nach meiner eigenen Erfahrung als Ministerin kann ich nur bestätigen, dass dieses Instrument ein zweischneidiges Schwert ist, das ebensoviel Schaden anrichten wie Gutes bewirken kann, sowohl bei denen, die sich seiner bedienen als auch denen, die auf der anderen Seite stehen. Das gilt insbesondere angesichts der weit verbreiteten und in jüngster Zeit zum Teil ‚legalisierten’ Praxis von ‚Abmachungen’ zwischen der Staatsanwaltschaft, dem Gericht und der Verteidigung. Wenn die Staatsanwaltschaft nämlich ‚politischen’ Weisungen zu folgen hat, kann das gesamte Verfahren leicht zu einer Farce werden.

 

2.2 typische Einflussnahmen

2002 äußerte sich Dr. Winfried Maier zur Unabhängigkeit der Staatsanwälte. Dr. Maier war bis zum Jahr 2000 in der Parteispendenaffäre der CDU/CSU als Staatsanwalt in Wirtschaftsstrafsachen bei der Staatsanwaltschaft Augsburg tätig und wechselte danach als Familienrichter zum OLG München. In seinem Vortrag anlässlich der 6. Speyerer Demokratietagung der Hochschule Speyer zum Thema „Korruption in Politik und Verwaltung“ am 24. und 25. Oktober 2002 sind die wichtigsten Formen der Einflussnahme auf die Staatsanwälte und deren Folgen beschrieben, siehe http://www.transparency.de/fileadmin/pdfs/30.90.01MaierSpeyer02-10-05.pdf.

Dr. Maier nennt verdeckte interne Weisungen als häufigste und einfachste und gefährlichste Art der Einflussnahme auf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, da sie nicht schriftlich dokumentiert sind. Zu den verdeckten Weisungen gehören interne Dienstbesprechungen und telefonische „Bitten“. Eine besondere Gefahr für den Ermittlungserfolg geht von den internen Berichten aus. Im Rahmen ihrer internen Berichtspflicht müssen Staatsanwälte ihre Vorgesetzten über den Inhalt des Verdachts, zu den geplanten Ermittlungsmaßnahmen und zu den Ermittlungsergebnissen informieren. Zum einen werden solche Berichte häufig von den Vorgesetzten angepasst oder sie dienen als Warnhinweis an die Beschuldigten oder an die Presse.

Aus der Weisungsgebundenheit des Staatsanwaltes ergibt sich nach Dr. Maier als systemimmanente Folge der vorauseilende Gehorsam. Dr. Maier begründet das wie folgt: „Denn mit dem vorauseilenden Gehorsam umgeht der Staatsanwalt die ihn maßregelnde, gesetzlich zumindest in Grenzen zulässige Weisung, er erspart sich Ärger und er empfiehlt sich für Beförderungen, die von den weisungsberechtigten Vorgesetzten ausgesprochen werden.

Als Folgen der Einflussnahme durch Weisungsgebundenheit führt Dr. Maier mehrere Gefahren auf und erläutert sie:

-        Gefahr eingeschränkter Ermittlungsmöglichkeiten bei Ermittlungen (z. B. wegen Untreue oder Vorteilsannahme) gegen Vorgesetzte oder hohe Amtsträger

-        Gefahr, dass das Weisungsrecht der Exekutive das Prinzip der Gewaltenteilung einschränkt

-        Gefahr für das Selbstverständnis der Justiz, die Gleichheit vor dem Gesetz gegenüber jedermann zu verwirklichen

-        Gefahr für das Ansehen der Justiz durch nicht transparente Einflussnahmen

-        Gefahr für das Verantwortungsbewusstsein und die Initiative.

Heute fühlen sich Staatsanwälte als „Marionette der Politik“, wie es der Frankfurter Oberstaatsanwalt Klaus Pförtner am 8.11.2008 ausdrückte. Beim „Internationalen Symposium zur richterlichern Unabhängigkeit in Europa“ hielt Klaus Pförtner einen bemerkenswert offenherzigen Vortrag an der Universität Frankfurt am Main. Der vollständige Vortragstext von Oberstaatsanwalt Pförtner ist unter http://www.gewaltenteilung.de/pfoertner.htm abrufbar. Darin ist zu spüren, wie unzufrieden selbst die Staatsanwälte mit den katastrophalen Rahmenbedingungen Ihrer Arbeit sind.

 

2.3 mangelhafte personelle Ausstattung

Die bereits bei der Rechtsprechung festgestellte Unterfinanzierung wirkt sich auf die Arbeit der Staatsanwaltschaften aus. Die Strafverfolgungsbehörden sind personell drastisch unterbesetzt, so dass sich Akten in den Amtsstuben türmen. Gerade bei komplexen Wirtschaftsstrafsachen können schnell hunderte von Akten zusammenkommen, deren Digitalisierung den Bearbeitungsaufwand des kritischen Lesen und Prüfens nicht reduziert.

Zum anderen resultiert aus der Unterfinanzierung eine mangelhafte fachliche Qualifikation. Die Gehälter sind einfach nicht attraktiv, um die besten Absolventen für den Posten eines Staatsanwaltes zu gewinnen, wenn die freie Wirtschaft die begehrten Experten mit einem mehrfach höheren Verdienst lockt.

Außerdem fehlt bei dünner Personaldecke die Zeit für dringend erforderliche Weiterbildungen. Die aktuelle Finanzmarktkrise mit ihren komplexen Schuldverbriefungen und Derivatkonstrukten oder auch Cross Border Leasing zeigen, dass viel wirtschafts- und finanzwissenschaftliches Know how erforderlich ist, um die kriminellen Machenschaften überhaupt erkennen zu können.

 

3. politische Aktivitäten

3.1 Umsetzung der Resolution 1685

Mehrere Bundestagsabgeordnete und die Fraktion DIE LINKE fragten in einer „Kleinen Anfrage“ die Bundesregierung, wie die Resolution 1685 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 30.9.2009 konkret umgesetzt werden soll. Laut Bundestags-Drucksache 17/958 vom 5.3.2010 verlangte die Anfrage fünf Auskünfte von der Bundesregierung zu Justizräten, zur Besoldung von Richtern und Staatsanwälten, zur Weisungsabhängigkeit der Strafverfolgung, zur richterlichen Überwachung der Strafverfolgung und zum Missbrauch der Strafjustiz, vgl. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/009/1700958.pdf.

Am 18.3.2010 „antwortete“ die Bundesregierung auf die Fragen, siehe Bundestags-Drucksache 17/1097 unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/010/1701097.pdf.

1) Justizräte
Wie stellt sich die Bundesregierung die Umsetzung der Aufforderung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vor, zur Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz in der Zukunft ein System der gerichtlichen Selbstverwaltung unter Berücksichtigung der föderalen Struktur der deutschen Justiz einzurichten – und zwar nach dem Vorbild der bestehenden Justizräte in der überwiegenden Mehrheit der europäischen Staaten?

Antwort der Bundesregierung:

Die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in ihrer Resolution 1685 (2009) geforderte Einführung eines Systems der Selbstverwaltung der Justiz in Form von Justiz(verwaltungs)räten in Deutschland wäre nach allgemeiner Ansicht nicht ohne entsprechende Änderungen des Grundgesetzes realisierbar. Hierzu bedürfte es breiter Zustimmung in den gesetzgebenden Körperschaften, die schon mit Rücksicht auf die überwiegend ablehnende Haltung der Länder gegenwärtig nicht erkennbar ist.

2) Besoldung von Richtern und Staatsanwälten
Wann wird damit begonnen, der Aufforderung nach einer schrittweisen Erhöhung der Bezüge der Richter und Richterinnen, der Staatsanwälte und Staatsanwältinnen sowie der Anhebung der zur Verfügung stehenden Mittel für die Prozesskostenhilfe, nachzukommen?

Antwort der Bundesregierung:

Durch die Föderalismusreform im Jahr 2006 wurden die Gesetzgebungsbefugnisse gemäß Artikel 74 Absatz 1 Nummer 27 des Grundgesetzes für die Besoldung der Richter in den Ländern auf die Länder übertragen. Damit kann der Bund für die ganz überwiegende Zahl der Richterinnen und Richter in Deutschland die Besoldung nicht mehr regeln.

Der Zugang zum Recht wird in allen (nicht strafgerichtlichen) Verfahren durch Prozesskostenhilfe gewährleistet. Prozesskostenhilfe erhält eine Partei für eine hinreichend aussichtsreiche Rechtsverfolgung, soweit sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht oder nur zum Teil aufbringen kann (§ 114 der Zivilprozessordnung). Auf Prozesskostenhilfe besteht ein Rechtsanspruch. Bund und Länder stellen in ihrer jeweiligen Zuständigkeit die notwendigen Haushaltsmittel für die Gewährung von Prozesskostenhilfe zur Verfügung.

Im Strafverfahren hält die Strafprozessordnung mit dem Institut der notwendigen Verteidigung insgesamt ein ausgewogenes System bereit, das in rechtsstaatlicher Weise die Möglichkeiten für eine umfassende Verteidigung des Angeklagten sicherstellt. Nach § 140 der Strafprozessordnung (StPO) bestellt das Gericht in den dort geregelten Verfahrenslagen einen Pflichtverteidiger, weil der Gesetzgeber davon ausgeht, dass der Angeklagte sich in diesen Fällen nicht selbst verteidigen kann. Auch insoweit haben Bund und Länder die hierfür notwendigen Haushaltsmittel bereitzustellen.

3) Weisungsabhängigkeit der Strafverfolgung
Durch welche Initiativen beabsichtigt die Bundesregierung den Ministern der Justiz die Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Strafverfolgung durch Anweisungen im Einzelfall zu nehmen?

Antwort der Bundesregierung:

Die Bundesregierung wird die zu dieser Frage geführte Diskussion weiterhin aufmerksam verfolgen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass entsprechende Überlegungen und etwaige Reformvorschläge in erster Linie die Länder und ihre Staatsanwaltschaften betreffen.

4) richterliche Überwachung der Strafverfolgung
In welchem Umfang wird die Bundesregierung die Aufsicht durch die Richter und Richterinnen in Recht und Praxis über die Ausübung erweiterter Befugnisse der Staatsanwaltschaft, insbesondere im Kampf gegen den Terrorismus stärken?

Antwort der Bundesregierung:

Die Strafprozessordnung sieht für Ermittlungsmaßnahmen, die nicht nur unerheblich in die Grundrechte der von ihnen Betroffenen eingreifen, bereits jetzt ganz überwiegend vor, dass sie durch ein Gericht angeordnet werden. Zudem hat der Gesetzgeber die gerichtliche Kontrolle in letzter Zeit weiter ausgebaut. Durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG, das am 1. Januar 2008 in Kraft getreten ist, wurde u. a. die Anordnung einer längerfristigen Observation gemäß § 163f StPO von Beginn der Maßnahme an dem Richtervorbehalt unterstellt. Zudem wurde für heimliche Ermittlungsmaßnahmen die Benachrichtigung der von ihnen Betroffenen sowie damit verbunden eine mögliche nachträgliche gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme sowie der Art und Weise ihres Vollzuges neu geregelt (§ 101 Absatz 4 bis 7 StPO). Zurzeit sieht die Bundesregierung für die bestehenden Ermittlungsmaßnahmen keinen Handlungsbedarf.

5) Missbrauch der Strafjustiz
Auf welche Art und Weise beabsichtigt die Bundesregierung mit den zu erwartenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Verstößen gegen die Unabhängigkeit von Richtern und Richterinnen sowie politisch motivierten Missbrauch der Strafjustiz umzugehen?

Antwort der Bundesregierung:

Die Bundesregierung erwartet keine derartigen Entscheidungen.

Die „Antworten“ der Bundesregierung sind inhaltlich keine richtigen Antworten, sondern bestehen aus typischen politischen Leerformeln. Die CDU/CSU/FDP-Bundesregierung sieht keinen konkreten Handlungsbedarf, sondern will nur beobachten oder fühlt sich schlicht nicht zuständig. In der Rolle des fast unbeteiligten Zuschauers will die Bundesregierung abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Von einer Initiative, irgendetwas im Sinne der europäischen Ziele zu ändern, ist überhaupt nichts zu erkennen, nicht einmal eine Spur.

 

3.2 Dealjustiz

Auf einem ganz anderen Gebiet ist die Bundesregierung dagegen noch zu Zeiten der großen Koalition tätig geworden, und zwar mit dem „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 29.7.2009, das am 4.8.2009 in Kraft getreten ist, siehe BGBl. I S. 2353. Das Gesetz setzt Vorgaben um, die der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofes im Urteil GSSt 1/04 vom 3. 3. 2005 für Absprachen definiert hat. In der Pressemitteilung zum Urteil betont der Große Senat für Strafsachen, „dass er mit seiner Entscheidung an die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung stößt. Er appelliert deshalb an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Es ist primär Aufgabe des Gesetzgebers, die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens und damit auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache unterworfen sein soll, festzulegen“.

Die zentrale Vorschrift zur Verständigung im Strafverfahren ist seit dem 4.8.2009 ein neuer § 257c in der Strafprozessordnung (StPO):

(1) Das Gericht kann sich in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten nach Maßgabe der folgenden Absätze über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens verständigen. § 244 Absatz 2 bleibt unberührt.

(2) Gegenstand dieser Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. Bestandteil jeder Verständigung soll ein Geständnis sein. Der Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nicht Gegenstand einer Verständigung sein.

(3) Das Gericht gibt bekannt, welchen Inhalt die Verständigung haben könnte. Es kann dabei unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen auch eine Ober- und Untergrenze der Strafe angeben. Die Verfahrensbeteiligten erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Verständigung kommt zustande, wenn Angeklagter und Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des Gerichtes zustimmen.

(4) Die Bindung des Gerichtes an eine Verständigung entfällt, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Gleiches gilt, wenn das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist. Das Geständnis des Angeklagten darf in diesen Fällen nicht verwertet werden. Das Gericht hat eine Abweichung unverzüglich mitzuteilen.

(5) Der Angeklagte ist über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichtes von dem in Aussicht gestellten Ergebnis nach Absatz 4 zu belehren.

Einige Kritiker der Dealjustiz sprechen vom „schönen Schein des Strafrechts“, so der Konstanzer Strafrechtsprofessor Wolfgang Heinz vom Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Konstanz. Sein Vortrag im Rahmen des Interdisziplinären Seminars „Was heißt soziale Gerechtigkeit“? in der Universität Konstanz am 13.1.2010, ist online verfügbar unter http://www.uni-konstanz.de/FuF/Jura/heinz/Heinz_Schoener_Schein_StrafR.pdf. Andere Kritiker sehen Deutschland mit der Absprachepraxis auf dem Weg in eine Bananenrepublik und befürchten den Untergang der Rechtskultur. So deutlich betitelt der Münchener Strafrechtsprofessor Bernd Schünemann bereits 2005 seine beiden Schriften zum Thema:

-         „Strafprozessuale Absprachen in Deutschland – Der Rechtsstaat auf dem Weg in die „Bananenrepublik“?, in: Schriften der Juristischen Gesellschaft Mittelfranken zu Nürnberg e.V. Heft 19, 2005.

-        Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur – Die Urteilsabsprachen als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung, 2005

In dem Artikel „Die Zukunft des Strafverfahrens – Abschied vom Rechtsstaat“ in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) Band 119, Heft 4/2007, Seite 945 – 958, begründet Schünemann seine Kritik damit, dass die Urteilsabsprachen faktisch die Hauptverhandlung abschaffen. Bei den Absprachen muss sich der Richter ausschließlich auf den Inhalt der möglicherweise einseitigen Ermittlungsakten verlassen. Die Möglichkeit entfällt, die Prägewirkung der Ermittlungsakten in der Hauptverhandlung zu korrigieren. Nach Schünemann wird durch die Absprachen „das Strafverfahren de facto wieder in den Inquisitionsprozess zurückkatapultiert“, vgl. Seite 951 unter http://www.reference-global.com/doi/pdfplus/10.1515/zstw.119.4.945. Unbewusst verwertet der Richter die Bereitschaft des Angeklagten in Absprachen als ein Schuldeingeständnis und verurteilt dann in einer beweismäßig offenen Situation signifikant häufiger als ohne eine derartige Vorgeschichte.

Die Grundsätze der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlung werden durch die Absprachen verletzt. Die jetzt legalisierte „Verständigung“ ermöglicht eine Geheimjustiz mit Deals, die besonders Wirtschafts- und Regierungskrimininelle bevorzugen. Die Beweisaufnahme wird drastisch reduziert, die Aufklärung von strafbaren Vorgängen bleibt gegenüber der Öffentlichkeit im Verborgenen. Selbst renommierte Strafverteidiger wie der Frankfurter Fachanwalt für Strafrecht Eberhard Kempf sehen „mit der Legalisierung von Absprachen im Strafverfahren ‚die Grundlagen des Strafverfahrens in Beliebigkeit und Willkür’ aufgelöst“, siehe Seite 276 in „Gesetzliche Regelung von Absprachen im Strafverfahren? oder: Soll Informelles formalisiert werden?“, Zeitschrift Strafverteidiger (StV), Heft 5/2009, Seiten 269 – 276, online verfügbar unter http://www.strafverteidiger-stv.de/hlv/stv/stv_home.nsf/ressourcen/dateien/beitraegestv063/$file/beitraegestv063.pdf.

In seinem Zitat ‚die Grundlagen des Strafverfahrens in Beliebigkeit und Willkür’ bezieht sich Eberhard Kempf auf Monika Harms, die frühere Richterin am Bundesgerichtshof und heutige Generalbundesanwältin. Doch in welchem Mileu bewegt sich Frau Harms und die von ihr geleitete Generalbundesanwaltschaft? Im Falle des angeblich von der RAF ermordeten Generalbundesanwaltes Siegfried Buback missachteten die Bundesanwälte einfachste Grundregeln der Kriminalistik hat. Erst die Recherchen und Publikationen des Sohnes, eines weisungsunabhängigen Chemie-Professors, offenbarten 2008 – 2009: die wahren Mörder von Siegfried Buback wurden bis heute nicht angeklagt, und staatliche Behörden vertuschten mehr als sie aufklärten.

 

4. Wertung

Legitimität bezeichnet die Rechtmäßigkeit eines Staates und seines Herrschaftssystems durch Einhaltung bestimmter Grundsätze und Wertvorstellungen. Legitimität unterscheidet sich durch die Anerkennungswürdigkeit von der formalen Gesetzmäßigkeit, der Legalität. Gerichte erhalten ihre Legitimität nur durch Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Denn Richter werden nicht direkt vom Volk bestellt und sind ihm gegenüber auch nicht zur Rechenschaft verpflichtet. Vertrauen gewinnt die Justiz durch Unabhängigkeit gegenüber Politikern und anderen mächtigen Akteuren wie Wirtschaftskonzernen. Nur dann kann die Judikative als Dritte Gewalt die Gleichheit aller vor dem Gesetz gewährleisten sowie Minderheiten und Schwächere nach dem Gesetz vor den Mächtigen schützen.

In ihrer länderübergreifenden Studie kommt Ruth Kunz 2009 zu dem Ergebnis, dass nur die tatsächliche Unabhängigkeit der Justiz Vertrauen schafft. Eine Unabhängigkeit bloß auf dem Papier, z. B. in Deutschland nur im Grundgesetz, erhöht für sich allein betrachtet nicht das Vertrauen in die Justiz. Das Vertrauen bleibt vor allem dann aus, wenn die Unabhängigkeit faktisch nicht gegeben ist, wie die Feststellungen im Bericht des Europarats belegen.

In seinem Beitrag „Ein Rechtsstaat braucht unabhängige Staatsanwälte“ in der Börsen-Zeitung vom 7.3.2008 stellt Stefan Voigt, Hamburger Professor für Ordnungsökonomik, fest: „Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass auch die Regierenden unter dem Recht agieren, Minister, Staatsanwälte und Bürokraten sich also an allgemein gültige Regeln halten müssen. Staatsanwälte haben die Aufgabe, Informationen über Straftaten und Täter zu sammeln und sie dann vor einem – unabhängigen – Gericht zu präsentieren. Nun ist aber nicht auszuschließen, dass auch Mitglieder der Exekutive Straftaten begehen. Wenn die Staatsanwälte dann von der Regierung abhängig sind, dürfte es um die Verfolgung der Straftaten nicht gut bestellt sein.

Die spektakulären Fälle um die CDU-Spendenaffäre und den Mannesmann-Prozess erwecken den Eindruck, als ob sich bestimmte Täter selbst vor Gericht von einer Freiheitsstrafe freikaufen können, weil sie über genügend Geld und Einfluss verfügen und so die Strafverfahren derart verkomplizieren, dass die Justiz nicht in der Lage ist, den vollständigen Sachverhalt aufzuklären. Auch in der aktuellen Finanzmarktkrise ist zu befürchten, dass viele Täter aus der Bankenwelt und deren Aufseher aus der Politik für die von Ihnen verursachten Schäden nicht mit ihrem privaten Vermögen haften müssen. Trotz offenkundig kriminellen Treibens vor dem Hintergrund von Betrug und Untreue werden die Täter meist nicht einmal angeklagt. Es droht eine Zwei-Klassen-Justiz in Deutschland, bei der Wirtschaftskriminelle im Verbund mit und unter dem Schutz von Politikern weite Teile der Bevölkerung ausplündern können, ohne Strafe fürchten zu müssen.

Eine wesentliche Ursache dafür ist die Abhängigkeit der Richter und Staatsanwälte von der Politik. Die wichtigsten Formen der Abhängigkeit wurden oben aufgezeigt, ebenso die Unwilligkeit der Politik, daran etwas zu ändern. Der Deutsche Richterbund sieht darin den Grund für nicht aufzuklärende „Regierungskriminalität“ in Deutschland. Besonders hervorzuheben ist die Weigerung der amtierenden Bundesjustizministerin, ihren eigenen Ansichten zu folgen und die Vorgaben des Europarates zu erfüllen. Im Gegenteil, mit der Dealjustiz wurden Instrumente geschaffen, die den Weg Deutschlands in eine Bananenrepublik formal absichern. Die Dealjustiz gefährdet nicht nur das Ansehen der Justiz, sondern gefährdet die Grundlagen einer Demokratie.

Die zahlreichen Abhängigkeiten der Justiz erhöhen das Risiko von Korruption. Die Wirtschaftswissenschaftler Stefan Voigt und Lorenz Blume analysierten 2005 die Ursachen und Folgen korrupter Justizbehörden in umfangreichen Regressionsstudien über viele Länder. Ihre Empfehlungen lauten:

1. Verbesserung der Einkommen von Richtern und Staatsanwälten

2. Reduktion von „prozeduralem Justizformalismus“, d. h. Abbau von Komplexität im System der Rechtsdurchsetzung

3. Verkürzung der Entscheidungsdauern von Gerichtsprozessen, d. h. Verkürzung der Zeit, die für ein rechtskräftiges Urteil benötigt wird

4. Abschaffung des Anklagemonopols von Staatsanwaltschaften.

 

Literaturhinweise

·         Anne van Aaken, Lars P. Feld, Stefan Voigt:
Power Over Prosecutors Corrupts Politicians: Cross Country Evidence Using a New Indicator”, abrufbar mit Stand März 2008 als
CESifo Working Paper Series No. 2245, MACIE Discussion Paper No. 0208 U. of St. Gallen Law & Economics Working Paper No. 2008-06 unter http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1097675
aktualisiert unter dem Titel “Do Independent Prosecutors Deter Political Corruption? An Empirical Evaluation Across Seventy-Eight Countries” in der Zeitschrift “American Law and Economics Review”, Vol. 12, Issue 1, pp. 204-244, 2010 unter
http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1593920##
als Powerpoint-Präsentation unter http://siteresources.worldbank.org/INTLAWJUSTINST/Resources/PoweroverProsecutorsCorruptsPoliticians.ppt

·         http:///www.gewaltenteilung.de
dort besonders die Beiträge von Paulus van Husen, Georg August Zinn und Karl Jaspers. Neuere Formen der Abhängigkeit finden sich unter den Schlagworten „Neue Steuerungsmodelle“ bei Udo Hochschild und „Mediation“ bei Michael Krämer und Klaus Lindner. Einen chronologischen Überblick über die vielen Beiträge auf der Homepage Gewaltenteilung.de liefert http://www.gewaltenteilung.de/beitraege.htm.

·         Ruth Kunz:
Vertrauen in die Justiz – Der Einfluss institutioneller Unabhängigkeit, 82 Seiten
Working Paper No. 28, National Centre of Competence in Research (NCCR), Challenges to democracy in the 21st Century
Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich, Juni 2009
online abrufbar unter http://www.nccr-democracy.uzh.ch/publications/workingpaper/pdf/WP28.pdf

·         Winfried Maier:
der Vortrag von der Speyerer Demokratietagung am 24./25.10.2002, der sich online abrufen lässt unter
http://www.transparency.de/fileadmin/pdfs/30.90.01MaierSpeyer02-10-05.pdf, findet sich etwas ausführlicher in dem Artikel „Wie unabhängig sind Staatsanwälte in Deutschland?“ von Dr. Winfried Maier in der Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2003, Seite 387-391.
Weitere Details zur Weisungsgebundenheit deutscher Staatsanwälte finden sich im Minderheitenbericht von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen zum sogenannten Schreiber-Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag vom 18.7.2002 unter http://www.spd-landtag.de/downl/020718UAMinder.pdf.

·         Stefan Voigt, Lorenz Blume:
Wenn Justitia die Hand aufhält – Ursachen und Folgen korrupter Justizbehörden
27 Seiten, German Working Papers in Law and Economics, Volume 2005, Paper 19
online abrufbar unter http://www.bepress.com/cgi/viewcontent.cgi?article=1133&context=gwp
in leicht erweiterter Fassung in der Zeitschrift „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“, Volume 8 Issue 1, Seite 65 – 92, 2007